Der Verdener Landrat Peter Bohlmann (SPD) gilt als Experte für die Sozialverwaltung, er leitet den Jugend- und Sozialausschuss des Landkreistages. Schon seit langem begleitet er die Pläne des Bundes für ein „Bürgergeld“ kritisch. Das bleibt auch so nach dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss. Bohlmann äußert sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.

Rundblick: Herr Bohlmann, die Berliner Ampel-Koalition und die CDU/CSU haben zum Bürgergeld eine Verständigung erzielt. Damit steigen die Regelsätze der Hartz-IV-Empfänger am 1. Januar um mehr als zehn Prozent. Ist das nicht ein Erfolg?
Bohlmann: Da sind in der öffentlichen Debatte zwei Dinge miteinander vermengt worden, die man sorgfältig unterscheiden sollte. Das eine ist die Anpassung der Regelsätze an die Preissteigerung, das gehört fast schon zur Sozialstaatsroutine, was an der jährlichen Erhöhung der Sätze außer 2006 und 2011 ersichtlich wird. Das andere ist die grundsätzliche Frage, nach welchem System die Sozialleistungen gegeben werden sollen – und unter welchen Bedingungen.
Rundblick: Den Bedenken derer, die meinten, hier werde zu viel gegeben und den Empfängern zu wenig abverlangt, ist man doch mit dem Kompromiss entgegengekommen, oder?
Bohlmann: Was stimmt ist, dass es gegenüber dem ersten Entwurf nun keine „Vertrauenszeit“ gibt, also eine Zeit ohne Sanktionen für jene, die nicht mit den Behörden kooperieren. Die Freigrenzen beim Schonvermögen während der nunmehr einjährigen Karenzzeit wurden für die erste Person der Bedarfsgemeinschaft von 60.000 auf 40.000 Euro reduziert und bei jeder weiteren Person auf 15.000 Euro halbiert. Bei zwei Personen sind es 55.000 statt 40.000 Euro.
Rundblick: Ist das ein gutes Signal?
Bohlmann: Das führt immer noch dazu, dass ein Transferbezug auch in der oberen Hälfte der Vermögensbesitzenden in Deutschland möglich ist. So verfügen 40 Prozent der Haushalte in der Bundesrepublik über kein Nettovermögen und nach den Berechnungen des DIW von 2019 befinden sich Besitzende schon mit 26.000 Euro in der oberen Hälfte der Gesellschaft. Für sie wird also ein Transferbezug möglich, ohne dass sie zuvor ihr eigenes Vermögen antasten müssen. Das halte ich für bedenklich. Denn der Sozialstaat kann nur fortentwickelt werden, wenn die Zahlungsbereitschaft ihm gegenüber erhalten bleibt, was das feine Austarieren von Leistungs-, Verteilungs- und Bedarfsgerechtigkeit voraussetzt. Ich befürchte bei diesen Regeln massive Akzeptanzverluste. Wie war es bisher bei Hartz IV? Bei vielen Empfängern war es so, dass sie zur Vermeidung von Vermögensanrechnungen mit hoher Eigeninitiative bemüht waren, eine Arbeitseinkommen zu erzielen und den Weg in die Arbeitslosigkeit zu vermeiden.
Rundblick: Was wäre aus Ihrer Sicht heute angebracht? Wird die neue Regelung den Zielen gerecht?
Bohlmann: Ab Mitte 2023 soll das angeblich zu häufig sanktionierende Fallmanagement in den Jobcentern zur aufsuchenden Sozialarbeit bewogen werden und noch beratender als bisher tätig sein. In normalen Zeiten mögen solche Ansätze vielleicht noch bearbeitbar sein. Innerhalb der sich derzeit überlagernden Krisen sind sie jedoch toxisch, weil das Bürgergeld in Zeiten des absoluten Arbeitskräftemangels eher nicht zu bedarfsbedeckenden Arbeitsaufnahmen animieren wird. Das ist eine Seite. Auf der anderen werden durch die neue Regelung die ohnehin schon am Limit arbeitenden lokalen Behörden noch weiter belastet.
Rundblick: Ist das wirklich so schlimm in den Rat- und Kreishäusern?
Bohlmann: Bitte bedenken Sie die Zusammenballung von Problemen. Die Kreise und kreisfreien Städte müssen immer noch die Corona-Pandemie bekämpfen, Vorkehrungen für die Krise der Energieversorgung schaffen und den Bevölkerungsschutz organisieren. Es geht um den Sicherstellungsauftrag der Krankenhäuser und um die Flüchtlinge, vor allem die aus der Ukraine. Jetzt sind schon mehr Menschen hier als im Winter 2015/2016. Und jetzt sollen die Kommunen auch noch zwei große Gesetzesvorhaben, das Bürgergeld und das Wohngeld-Plus-Gesetz, gleichzeitig zum 1. Januar 2023 umsetzen. Das ist eine enorme Last. Noch dazu erstaunt mich, wie sehr die Parteien in Berlin bei der Beratung des Bürgergeld-Gesetzes über ihre weltanschaulichen Prägungen hinausgewachsen sind.
Rundblick: Was meinen Sie damit?
Bohlmann: Nehmen wir etwa die Grünen, die im ersten Entwurf für das Bürgergeld keine Wohnflächenbegrenzungen bei gleichzeitiger Spitzabrechnung der Heizkosten vornehmen wollten. Das hätte eine bedingungslose Zahlung der Gas- und Ölrechnung bedeutet, was dem Sinn des Energiesparens zuwider gelaufen wäre. Die Arbeitnehmerpartei SPD ließ den Grundsatz außer Acht, dass Sozialleistungen von denen akzeptiert werden müssten, die sie bezahlen sollen. Und die FDP erzählte das Märchen vom Schonvermögen (damals 60.000 Euro) als Anerkennung der Lebensleistung. Ist das überzeugend, wenn ein 30-jähriger Bürgergeldempfänger seine 40.000-Euro-Erbschaft als „Lebensleistung“ zugestanden bekommt, während die 70-jährige Empfängerin von Grundsicherung im Alter nur ein Schonvermögen von 5000 Euro (oder 10.000 Euro im nächsten Jahr) behalten darf? Ebenso verwundert mich die vorgeblich so föderalistische CDU, die die letzte Verteidigerin von Hartz IV zu sein scheint , obwohl die dort festgelegten Detailregelungen das bisher prägnanteste Beispiel für ineffektiven Bundesdirigismus sind.
Rundblick: Ist da ein grundsätzlicher Webfehler in den Vorschriften zur Absicherung der Bedürftigen im Sozialstaat?
Bohlmann: Ja, weil sich hier seit 2005 bestehende Konstruktionsfehler des Sozialgesetzbuchs II offenbaren. So stößt das Gesetz immer wieder bei dem Versuch an Grenzen, von Berlin oder Nürnberg regionale Arbeitsmärkte für Langzeitarbeitslose oder Räume für Sozialhilfeempfänger zu gestalten. Zum Beispiel das Thema Migration: Eine erfolgreiche Integration kann nur über eine enge Zusammenarbeit des Sozialhilfeträgers mit der kommunalen Jugendhilfe, Ausländerbehörde, Sozialhilfe und mit dem Schulträger bis zur Erwachsenenbildung gelingen. Auch die Wirtschaftsförderung bei der Fachkräftevermittlung spielt dabei eine Rolle. Doch im SGB II wurde die Vermittlung und Qualifizierung der Bedarfsgemeinschaften aus der kommunalen Sozialverwaltung herausgerissen und den Jobcentern zugeordnet. Es gab später einen Kompromiss, aber nach wie vor werden 301 Jobcenter gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit betrieben. Erst jetzt, beim Bürgergeld, wird der schon seit vielen Jahren als richtig erkannte „ganzheitliche Ansatz“ anerkannt. Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die schon lange fordern, die Zuständigkeit für das SGB II komplett den Landkreisen zu übertragen. Bestätigen wird sich das im nächsten Jahr auch durch die gleichzeitige Umsetzung des Bürgergeld- und des Wohngeld-Plus-Gesetzes. Beide Gesetze sind als vorrangige und nachrangige Leistungen eng miteinander verbunden und es wird Anspruchsberechtigte geben, die von dem einen in das andere System rutschen. Bei den von der Bundesagentur für Arbeit betriebenen Jobcentern wird das mit kompletten Behördenwechsel zwischen ihnen und den kommunalen Wohngeldstellen verbunden sein. Effizient und bürgerfreundlich ist das nicht!
Rundblick: Sie sehen das als Beispiel dafür, wie die Bundesgesetzgebung die kommunale Flexibilität lähmt und die Bürokratie fördert. Gibt es weitere solche Fälle?
Bohlmann: Ja, der Bund streut gern Sand ins Getriebe. Mussten kommunale Beschäftigungsangebote vor 2011 stets „zusätzlich, gemeinnützig und im öffentlichen Interesse“ sein, so entschied man in jenem Jahr, dass sie zudem auch noch „wettbewerbsneutral“ zu sein hatten. Die Konsequenz daraus war, dass Arbeitsgelegenheiten nicht mehr angeboten werden durften, wenn die dortige Tätigkeit im Prinzip auch privatwirtschaftlich erbracht werden konnte. In der Flüchtlingskrise 2015 war das fatal, weil Asylberechtigte nicht einmal für die Betreuung der Sammelunterkünfte eingesetzt werden durften. Dagegen wurde 2016 – Monate nachdem bereits die Flüchtlingszahlen wieder zurückgingen - ein Bundesprogramm für Flüchtlinge aufgelegt, welches kaum in Anspruch genommen wurde. Allein die FAQs dafür umfassten mehr als 5000 Wörter auf 15 Seiten. Jetzt haben wir wieder eine Flüchtlingskrise – und neue Probleme, die auch mit dem Bürgergeld zusammenhängen.
Rundblick: Was genau meinen Sie?
Bohlmann: Mit der Rechtskreisänderung für die Ukraine-Flüchtlinge gibt es Ansprüche auf Hilfen, die nicht auf sozialen Problemlagen und errungenen Anwartschaften, sondern nur auf der Nationalität und dem Pass beruhen. Bei der Unterbringung von Flüchtlingen ist das eher hinderlich. So sieht das SGB II vor, dass nicht die Kreise zuständig sind, sondern die Gemeinden, die sich um die Obdachlosenbetreuung kümmern müssen. Das Aufnahmegesetz soll auf Initiative des Landes Niedersachsen geändert werden, damit die Kreise wieder zuständig werden. Aber dann würde eine nicht unerheblich große Personengruppe Bürgergeld bekommen und Ansprüche auf eine Unterkunft bekommen, obwohl das mit dem Grundgedanken des Bürgergeldes, dem der emanzipatorischen Sozialpolitik, gar nichts mehr zu tun hat.
Rundblick: Wie lautet Ihr Fazit?
Bohlmann: Ich bin alarmiert. Das Bürgergeld ist beschlossen, schon bereitet der Bund die nächste Reform vor, die Kindergrundsicherung. Ich befürchte, dass eine Erkenntnis bei den Entscheidern in Berlin noch nicht angekommen ist: Man kann Probleme nicht nur mit Geld, mit neuen Behörden und mit ungebremster Paragraphenproduktion in den Griff bekommen. Eine erfolgreiche Sozialpolitik und Integration gelingt nur, wenn es eine gute Organisation und Vernetzung vor Ort gibt. Das Bürgergeld erfüllt diesen Anspruch nicht, es ist nicht „die größte Sozialreform seit 20 Jahren“, als das sie von ihren Befürwortern angepriesen wird. Das Bürgergeld bewegt sich weiter im Hamsterrad von Hartz IV und hat dieses sogar noch größer gemacht.