13. Juli 2015 · 
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Kommentar: Hessische Verhältnisse

(rb) Der Kampf um die Spitzenkandidatur ist allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz in der niedersächsischen CDU bereits entbrannt. Die jüngste NDR-Umfrage hat offenbar neue Kräfte freigesetzt und einen ohnehin nicht verständlichen Dörnröschenschlaf beendet, was diese zentrale Frage vielleicht schneller beantworten könnte, als so mancher geplant hat. Die Mühe, die sich Generalsekretär Ulf Thiele dabei gemacht hat, jede denkbare Ausuferung von Personaldiskussionen einzudämmen und auf einen Zeitpunkt nach der Kommunalwahl 2016 zu vertagen, ist längst gescheitert. Phrasen über Parteiprogramme, die zunächst diskutiert, geschrieben und beschlossen sein müssten, kennt man aus jeder Partei. Gleichwohl interessieren sich offenbar nur Buchhalter-Seelen für Programme. Der frühere Landtagspräsident Jürgen Gansäuer prägte dazu den schönen Satz „Wer Parteiprogramme liest, der liest auch Telefonbücher“. Wahlen – und das ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis – werden mit Personen gewonnen oder verloren, nicht mit noch so schönen Programmen. Zwei Fakten aus dem Niedersachsen-Trend der NDR-Umfrage sind offenbar bei CDU-Landtagsfraktionschef Björn Thümler besonders klar und deutlich angekommen: Sein eigener trauriger Wert von vier Prozent bei der Frage nach dem Spitzenkandidaten, auch wenn er selbst auf das Heftigste bestreitet, dass ihn diese Zahl getroffen hat, und die Tatsache, dass es weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb eigene Mehrheiten gibt. Natürlich lassen sich die vier Prozent damit erklären, dass die große Mehrheit der Befragten auf Kandidat/innen gesetzt hat, die explizit nicht antreten werden, und damit am Ende nicht mehr viele Prozente zu verteilen waren. Fakt bleibt aber, dass Thümler – ebenso wie seine Amtskolleg/innen aus den anderen drei Fraktionen – in der breiten Bevölkerung praktisch Unbekannte sind. In der Mitte der Legislatur damit zu beginnen, an diesem Manko zu arbeiten, ist nachfühlbar und notwendig, wenn man zurück will in die Regierungsverantwortung. Derzeit ist der CDU-Fraktionschef derjenige, auf den die Spitzenkandidatur zulaufen könnte. Damit das so bleibt und bevor noch mehr denkbare oder auch undenkbare Kandidaten in die öffentliche Debatte geraten, will Thümler verständlicherweise das Zepter selbst in die Hand nehmen. Dazu gehört auch sein Vorstoß in Richtung Schwarz-Grün, dem bekanntlich auch Parteichef David McAllister nicht ganz abgeneigt ist. So beschwört Thümler scheinbar arglos die „hessischen Verhältnisse“, die bei einer ähnlichen Parteienkonstellation nach der Landtagswahl 2013 zu einem Bündnis der an sich erzkonservativen Christdemokraten im Nachbarland mit den dort besonders fundamentalistischen Grünen geführt hat. Und sie hält seit zwei Jahren problemlos, soweit man das von außen beurteilen kann. Bei Thümlers „Flirt“ mit Grünen-Fraktionschefin Anja Piel, den diese natürlich postwendend zurückweisen musste, dürfte es sich tatsächlich kaum um Sondierungsgespräche gehandelt haben; dergleichen gehört wohl eher zum professionellen Miteinander. Gleichwohl hat Thümler mit diesem öffentlichen Geplänkel auch seinen eigenen Parteifreunden und Mitbewerbern um die Spitzenkandidatur gezeigt, wer der Herr des Verfahrens ist und dass Abwarten nicht seins ist. Selbstverständlich kann auf diese Weise kein Keil in das rotgrüne Lager getrieben werden, der womöglich die Koalition ins Wanken bringt. Denn – und auch das ist keine neue Erkenntnis: Nichts ist so bombensicher wie eine Ein-Stimmen-Mehrheit. az
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #131.
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