Die Leitwährung der Politik ist das Vertrauen. Genauer gesagt: Die Bürger sollen das Gefühl haben, dass die verantwortlichen Leute, die in ihrem Auftrag den Staat lenken, es ehrlich mit ihnen meinen. Sie können zu langsam sein, über das Ziel hinausschießen, mal eine falsche Richtung einschlagen oder auf das falsche Pferd setzen, vielleicht sogar in eine unnütze Sache investieren. All das kann ihnen verziehen werden. Was kaum verziehen wird, ist die Vortäuschung falscher Motive und Absichten. Denn das ist ein Vertrauensbruch.

Dass Scholz nicht schon längst losgefahren ist, kann einen guten Grund haben: Vielleicht ist er ehrlicherweise gar nicht so sehr auf der Seite der Ukraine.

Die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hatte beteuert, sich voll und ganz für die Flutopfer engagiert zu haben. Dann kam heraus, dass sie teilweise falsche Angaben zu den wirklichen Abläufen machte. Sie geriet ins Straucheln und verlor Vertrauen – der Rücktritt war folgerichtig. Wenn nun allenthalben gefordert wird, Kanzler Olaf Scholz solle nach Kiew reisen und dort mit seiner persönlichen Anwesenheit die enge Verbundenheit mit der Ukraine unter Beweis stellen, dann ist das logisch. Viele Deutsche stehen fest an der Seite dieses Volkes, das vom russischen Aggressor Putin überfallen wurde, und der Kanzler repräsentiert uns. Dass Scholz nicht schon längst losgefahren ist, kann aber auch einen guten Grund haben: Womöglich wäre er in einer solchen Mission unglaubwürdig, vielleicht ist er ehrlicherweise gar nicht so sehr auf der Seite der Ukraine.

Olaf Scholz | Foto: Bundesregierung/Denzel

Scholz‘ Regierungserklärung vom 27. Februar wurde überall gefeiert, nicht nur wegen des Begriffs „Zeitenwende“, sondern auch wegen seiner klaren Distanzierung zu Wladimir Putin. War das nun aber nur eine Sonntagsrede, der nicht viel Substantielles folgte? Oft ist von der anschließenden Zögerlichkeit der deutschen Regierung berichtet worden, bei Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen. Es wäre zwar falsch, Scholz zur Russland-Connection um Altkanzler Gerhard Schröder zu rechnen, da kommen in der SPD eher andere Akteure ins Visier. Aber die berechtigte Frage ist, wie ernst Scholz seine eigene Ansage vom 27. Februar nimmt. Setzt er jetzt voll auf Landesverteidigung? Hat er erkannt, dass „Wandel durch Annäherung“ eine wirklichkeitsfremde Illusion war, zumindest mit Blick auf Putin? Will er wirklich seine SPD und die Grünen auf die Abkehr vom Pazifismus einschwören? Wer weiß es so genau, Scholz war bisher ein Meister des Sich-Verstellens, der Unnahbarkeit – viel stärker als seine Vorgängerin Angela Merkel.

Wenn der Kanzler nicht wirklich mit der Ukraine fühlt, soll er doch lieber nicht nach Kiew reisen. Dann soll er lieber hier bleiben.

Ganz ehrlich: Wenn der Kanzler nicht wirklich mit der Ukraine fühlt, soll er doch lieber nicht nach Kiew reisen. Dann soll er lieber hier bleiben. Und seine Vorgängerin? Angela Merkel ist für große Teile einer zu russlandfreundlichen deutschen Politik mitverantwortlich, und wenn sie das ehrlich bedauern würde, dann müsste sie die Reise nach Kiew recht bald antreten – und sich dort vor Ort entschuldigen für ihre Fehleinschätzungen. Nur dann hätte sie wirklich einen guten Platz in den Geschichtsbüchern verdient. Ihr würde doch kein Zacken aus der Krone brechen, oder?

Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi keinen Wert auf den Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew legt, wie gestern von Steinmeier selbst verlautete, ist diplomatisch sicherlich unklug. Denn Selenskyi trifft damit ja nicht nur einen maßgeblichen Architekten der deutschen Russland-Politik, sondern zugleich auch das deutsche Staatsoberhaupt. Die Verärgerung in Deutschland darüber ist verständlich. Nur sollte man in diesen aufgeregten Zeiten auch sehen: Auch Steinmeier hat eine politische Vergangenheit, und vermutlich wäre es ihm heute lieb, manches davon hätte er anders entschieden. Reinwaschen kann ihn davon niemand, auch Selenskyi nicht. Da hilft vermutlich nur Aufarbeitung, und dafür kann Steinmeiers Entschuldigung nur der Anfang sein.