Liebe Leserinnen und liebe Leser, 

ich habe ein Rätsel für Sie. Von wem stammt dieser Satz: „Ich bin nicht gut genug im Thema drin, um über den Russland-Ukraine-Konflikt zu sprechen.“ 
A.) mein Friseur, 
B.) Oliver Pocher,
C.) Altkanzler Gerhard Schröder,
D.) der Politiklehrer meines Bruders (8. Klasse, Gymnasium).
Und… Trommelwirbel… gewonnen haben diejenigen unter Ihnen, die auf Antwort D gesetzt haben. Leider. Weder im Vorfeld, als sich ein drohender Einmarsch der Russen abzeichnete, noch als es tatsächlich in der Nacht zu Donnerstag passierte, verlor einer der Lehrer meines Bruders ein Wort darüber. Weder der Politiklehrer, noch die Geschichtslehrerin, noch der Klassenlehrer. Am Donnerstag nicht, am Freitag nicht und am Montag nicht. Warum? 

Hätten Sie die 500 Euro bei „Wer wird Millionär“ mit Günther Jauch beantworten können? | Montage: Struck

Liegt es an der Schule? Immerhin hat es an ebenjenem Celler Gymnasium im Jahr 2011 auch niemand dafür nötig befunden mit meiner Klasse über das Unglück in Fukushima zu sprechen. Damals war ich genauso alt, wie mein Bruder heute: 14 Jahre. Nein, das Problem liegt tiefer. Eine weitere Geschichte. Im gesamten 11. Jahrgang einer weiterführenden Schule aus dem Heidekreis wurde ebenfalls bis diesen Dienstag nicht die Ukraine thematisiert. Am Freitag darauf angesprochen meinte die Erdkundelehrerin vom Sinn her: „Wir beenden vorher nur noch die zwei, drei Unterrichtseinheit zum Thema Globalisierung.“ Solche Geschichten machen mich fassungslos und richtig, richtig wütend. 

Aktuelle politische oder wirtschaftliche Ereignisse scheinen im Unterricht sowieso keinen Platz zu haben. Stattdessen klammern sich Lehrer an den Lehrplan, der längst eine grundlegende Generalüberholung benötigt. G8 wurde wieder zu G9 und die größte Veränderung ist, dass die meisten Schüler wieder früher Schulschluss haben.  

„Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere die Idee einer gemeinsamen Zukunft der europäischen Völker, zu erfassen und zu unterstützen und mit Menschen anderer Nationen und Kulturkreise zusammenzuleben.“

Niedersächsisches Schulgesetz (Paragraph 2) 

Der Ukrainekrieg wäre eine gute Gelegenheit gewesen, den Schülern in der Praxis zu vermitteln: Warum gibt es die Nato? Warum fühlt sich Russland bedroht? Warum antworten wir mit wirtschaftlichen Sanktionen und nicht mit Waffengewalt? Was bedeutet es in einer Demokratie zu leben? Die Fehler, die wir jetzt im Bildungssystem machen, werden sich in 15,spätestens 20 Jahren gravierend auf unsere Gesellschaft und Wirtschaft auswirken. Viele Versäumnisse wirken sich ja bereits jetzt aus. Die Querdenker-Szene ist ein Beispiel dafür, dass Demokratieverständnis oder die Einordnung von Fakten schon lange nicht mehr auf dem Lehrplan stehen. 

Hauptsache das Thema “Krieg in der Ukraine” ansprechen, hätte die Devise der Lehrer meines Bruders lauten sollen. | Foto: Canva, Montage: Struck

In der 8. Klasse meines Bruders wurde die Ukraine übrigens mittlerweile thematisiert. Im Matheunterricht. Eigentlich sollten die Kinder dort über ihre Sorgen zum Krieg in der Ukraine sprechen. Plot Twist: Bis auf meinen Bruder und zwei weitere Mitschüler hatten die anderen seit sechs Tagen herzlich wenig vom Angriffskrieg mitbekommen. „Die wussten nicht mal, dass die Ukraine in die Nato will“, empörte sich Colja am Abendbrottisch.  

„Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen“.

Niedersächsisches Schulgesetz (Paragraph 2)

Unter den Schülern kursieren bereits zahlreiche Gerüchte, wie zum Beispiel, dass man in Deutschland mit einem russischen Pass nicht mehr in Cafés hineingelassen wird. Mein Bruder berichtete: „Da kamen so Sätze: Für welche Seite bist du? Für welche Seite ich bin? Bist du bescheuert? Was ist dein Problem, Digga?“ Ja, was ist eigentlich das Problem, liebes Schulsystem? 

Einen friedvollen Donnerstag wünscht Ihnen,
Audrey-Lynn Struck