Niedersachsens Flüchtlingsrat kritisiert die Pläne der Landesregierung, im bevorstehenden Doppelhaushalt drastische Kürzungen im Migrationsbereich vorzunehmen. „Diese Kürzungen bedeuten für uns massive Einschnitte. Es werden dadurch Strukturen unwiderruflich zerschlagen, die in den vergangenen Jahren umsichtig aufgebaut wurden“, erklärte Sibylle Naß vom Verein „kargah“ am Mittwoch im Namen des Flüchtlingsrates.

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Geplant seien Einsparungen um die 50 bis 75 Prozent der bisherigen Förderung, führte Naß aus. Im Bereich der Förderung der Migrationsberatung sowie der Asylverfahrensberatung waren bislang jährlich über 10 Millionen Euro im Landeshaushalt vorgesehen. Künftig sollen dafür in 2022 noch 6,7 und für 2023 noch 5,3 Millionen Euro bereitgestellt werden. Im Bereich der Teilhabe zugewanderter Menschen werden die Mittel von 1,176 Millionen Euro (2021) auf 956.000 Euro in 2022 und 680.000 in 2023 zusammengestrichen. Die Gelder, die für die Professionalisierung der landesweit aktiven Migrantenorganisationen vorgesehen waren, sinken von derzeit 340.000 auf 285.000 (2022) und 260.000 (2023). Der Flüchtlingsrat hofft nun auf Unterstützung aus der Politik, um den angesetzten Rotstift der Landesregierung doch noch abwenden zu können. Unterstützung für seine Position erhielt das Gremium am Dienstag aus der Landtags-Kommission zu Fragen der Migration und Teilhabe. Dort, so berichtete der Flüchtlingsrat, habe man sich einstimmig für ihr Positionspapier „Stärken statt streichen“ ausgesprochen.

Als Grund für die Kürzungen im Migrationsbereich habe die Landesregierung die rückläufige Zahl der Asylbewerber angegeben, erklärten gestern die Vertreter des Flüchtlingsrates. Hans-Joachim Lenke, Co-Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, versuchte jedoch deutlich zu machen, dass es bei der Migrationsberatung um viel mehr gehe als die Bewältigung der Herausforderungen, die sich rund um die großen Migrationsströme von 2015 entwickelt hatten. „Ich erinnere mich noch gut an die Bilder von damals, wie die Menschen die Ankommenden am Bahnhof in München freudig begrüßt haben“, schilderte Lenke. Er sei stolz gewesen auf das, was damals als „Willkommenskultur“ bezeichnet wurde.

Integration der Migranten ist „Generationenaufgabe“

Doch er wolle auch daran erinnern, dass schon damals davon gesprochen wurde, die Integration dieser Menschen sei eine „Generationenaufgabe“. „Es ist ein merkwürdiges Generationenverständnis, wenn man nun glaubt, das sei nach sechs Jahren bereits erledigt.“ Es gehe nicht um kurzfristige Maßnahmen, die Bewältigung eines „Peak“, sondern um langfristige Begleitung. „Die Menschen bleiben und brauchen Hilfe“, sagte Lenke, der auch Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen ist. Dabei geht es dem Flüchtlingsrat auch um jene Migranten, die schon lange vor 2015 nach Deutschland gereist sind – für ein Studium, im Zuge der EU-Freizügigkeit oder eben als Schutzsuchende.

„Es ist ein merkwürdiges Generationenverständnis, wenn man nun glaubt, das sei nach sechs Jahren bereits erledigt.“

Hans-Joachim Lenke, Co-Vorsitzender Landesarbeitsgemeinschaft „Freie Wohlfahrtspflege“

Migranten hätten oft schlechtere Teilhabe-Chancen im Arbeitsmarkt aber auch im gesellschaftlichen Leben, führte Lenke weiter aus. Außerdem ergäben sich häufig Probleme bei der Aufnahme oder Anerkennung einer Ausbildung. Viele Migranten hätten zudem den Wunsch zu arbeiten, würden aber auf rechtliche Hürden stoßen. „Unsere Beratungsangebote beschäftigen sich genau mit diesem Spektrum“, sagte Lenke. Allerdings habe die Corona-Pandemie die Situation noch einmal verschlimmert. Es sei eine Rückentwicklung der Sprachkompetenz festzustellen, etwa weil Kinderbetreuung eine Zeitlang weggebrochen war und die Erwachsenen deshalb nicht mehr zu den Sprachkursen gehen konnten.

Migrantenberatung: Hälfte der
Vollzeitstellen droht wegzufallen

Sibylle Naß von „kargah“ schätzte, dass von 200 Vollzeitstellen in der Migrantenberatung künftig die Hälfte wegfallen könnte. Dabei gab sie zu bedenken, dass auf jede Vollzeitstelle auch ein bis zwei Ehrenamtliche zu rechnen wären. Lenke meinte, eine Verdopplung sei hier sogar noch zu kurz gegriffen. Er schätzte, dass auf jede Vollzeitkraft locker zehn Ehrenamtliche entfallen würden – und all diese Kräfte und die dahinterliegenden Strukturen gingen nun verloren, wenn das Land die Mittel so drastisch kürzt, wie es derzeit geplant ist.

Auch bei der politischen und gesellschaftlichen Partizipation seien Migranten benachteiligt, wie Anwar Hadeed von der Arbeitsgemeinschaft der Migranten in Niedersachsen ergänzte. „Fast 26 Prozent der Niedersachsen haben einen Migrationshintergrund, also hat fast ein Viertel der Bevölkerung keine Möglichkeit, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen.“ Dass die Landesregierung ausgerechnet jetzt, da die Situation durch die Pandemie sich ohnehin schon verschlechtert hat, auch noch Kürzungen bei den Migrantenselbstorganisationen vornehmen möchte, findet Hadeed unmöglich.