„Unsere Kirche hat hier große Fehler gemacht“, sagte Landesbischof Ralf Meister gestern in seinem Bericht vor dem hannoverschen Kirchenparlament. Vorangegangen war ein für einige Beobachter überraschendes und sehr deutliches Bekenntnis: „Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, deren Landesbischof ich bin, hat in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch geduldet und so in der Heimerziehung versagt. Sie hat schwere Schuld auf sich geladen“, erklärte der Bischof im Video-Stream des Landessynode aus Hannover. Wie kam es zu diesem Eingeständnis? Und wieso kam es gerade jetzt dazu?

„Warum habe ich nicht früher etwas gesagt?“ Landesbischof Ralf Meister thematisiert die Schuld seiner Kirche an zahlreichen Missbrauchsfällen – Foto: Jens Schulze/evlka

Zunächst ist festzuhalten: Kindesmissbrauch ist nicht nur ein Problem der katholischen Kirche, auch bei den Protestanten kam es zu derartigen Vorfällen. Derzeit wird davon ausgegangen, dass es seit 1950 im Bereich der Landeskirchen und der Diakonie 881 Fälle sexualisierter Gewalt gegeben hat. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung geht das häufig unter, das Thema fristet ein Schattendasein neben den Skandalen der katholischen Kirche. Zum Leidwesen der Protestanten wurde nun erst kürzlich ein Beleg dafür geliefert, dass es auch bei der evangelischen Kirche offenbar nicht so gut läuft. Im Mai wurde der Betroffenenbeirat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorerst ausgesetzt, manche sagen sogar: abgeschafft. Dabei war das Gremium, das Missbrauchsopfern eine Stimme geben sollte, erst im September des vergangenen Jahres eingesetzt worden. Die Kirche spricht von „internen Konflikten“, die Betroffenen bemängeln „defizitäre Strukturen“. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Fakt ist aber, dass bis März fünf der zwölf Mitglieder des Betroffenenbeirates wieder von dieser Position zurückgetreten waren.

Wir dürfen uns nicht in der falschen Sicherheit wiegen, dass das Thema auf Dauer bei der katholischen Kirche verhaftet bleibt.

In der größten der 20 evangelischen Gliedkirchen sorgten diese schlechten Nachrichten rund um den Betroffenenbeirat der EKD nun für Diskussionen. „Wir dürfen uns nicht in der falschen Sicherheit wiegen, dass das Thema auf Dauer bei der katholischen Kirche verhaftet bleibt“, warnte gestern die frühere niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne) auf der aktuellen Tagung der Landessynode der evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers. Niewisch-Lennartz ist selbst Mitglied des Kirchenparlaments, wirkt aber auch im Bistum Hildesheim als Obfrau für die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt mit. Vor etwa zwei Jahren hatte der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer die Politikerin und Juristin in diese Position berufen.


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Vor ihren evangelischen Glaubensgeschwistern schilderte sie nun von ihren Erfahrungen: „Den Betroffenen ist es natürlich wichtig, dass alle Schritte getan werden, damit sich die Taten nicht wiederholen.“ Besonders wichtig sei es ihnen zudem, gesehen und gehört zu werden, aber auch, dass die Institutionen, die hinter den Tätern stehen, sich dafür stark machten, dass die Taten aufgeklärt werden, dass die Institutionen die Verantwortung übernähmen. „Das erwarte ich von der Synode: die Institution dazu zu bringen, das aufzuarbeiten.“ Abschließend betonte sie: „Ich habe den Eindruck, dass wir unter Ansehensgesichtspunkten höchste Aufmerksamkeit auf diesen Bereich legen müssen.“

Offenheit, Transparenz und „schonungslose Ehrlichkeit“

Dem pflichtete auch Thela Wernstedt bei, die sowohl Kirchensynodale als auch SPD-Landtagsabgeordnete ist. Sie warnte, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, die evangelische Kirche kümmere sich nicht. Die Berichterstattung über die Auflösung des Betroffenenbeirates sei desaströs gewesen. „Als Institution müssen wir Vertrauen zurückgewinnen, dass Kinder und Jugendliche bei uns sicher sind. Es muss uns gelingen, öffentlich besser zu kommunizieren, was bei uns schon geleistet wird“, sagte Wernstedt.

Die Betroffenen wollen auch in der Kommunikation die Deutungshoheit haben. Wir als Kirche müssen hier deshalb ein Stück Deutungshoheit abgeben.

„Auch ich finde die Kommunikation schmerzhaft“, bekannte daraufhin Stephanie Springer, Präsidentin des hannoverschen Landeskirchenamtes. Sie sei jedoch davon überzeugt, dass dieser Schmerz unausweichlich sei. „Ein Stück weit ist es auch an uns, diese Schmerzhaftigkeit auszuhalten. Nicht, weil wir nichts tun wollen, sondern weil es damit zusammenhängt, dass viele Betroffene das Bild der Kirche als Täterorganisation haben“, führte Springer aus. Dass es beim EKD-Betroffenenbeirat derzeit nicht reibungslos laufe, führt die Kirchenamtspräsidentin darauf zurück, dass hier erstmals die Opfer von Missbrauch auf die Institution treffen, die sie als Täter identifizieren. Von ihrer Kirche verlangt Springer daher so etwas wie Buße – auch in kommunikativer Form: „Die Betroffenen wollen auch in der Kommunikation die Deutungshoheit haben. Wir als Kirche müssen hier deshalb ein Stück Deutungshoheit abgeben.“ Für ihre eigene Landeskirche forderte sie, Offenheit, Transparenz und „schonungslose Ehrlichkeit“ zur Maxime des Aufklärungs- und Aufarbeitungsprozesses zu machen. Springer schlug daher vor, diesen Punkt ab jetzt bei jeder Tagung der Landessynode aufzurufen, um ein Ausblenden oder Vergessen zu verhindern.

Eine missionarische Kirche ist eine Kirche, die anerkennt, dass sie schuldig geworden ist. Auch unsere Landeskirche.

Die große Demutsgeste folgte dann kurz nach der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt im Bericht des Landesbischofs. Eingebettet in seine Deutung der Kirche von morgen, die missionarisch, ökumenisch und nachhaltig sein müsse, erklärte Hannovers Landesbischof Ralf Meister: „Eine missionarische Kirche ist eine Kirche, die anerkennt, dass sie schuldig geworden ist. Auch unsere Landeskirche.“ Es habe Fälle sexualisierter Gewalt gegeben, die viele Jahre und Jahrzehnte zurückliegen, führte er weiter aus. 110 Fälle aus dem Bereich der Landeskirche Hannovers sind bislang bekannt, die meisten ereigneten sich in Kinderheimen, doch inzwischen wurden auch Fälle aus einzelnen Kirchengemeinden gemeldet. Erst jüngst waren Vorfälle bekanntgeworden, die sich in Hittfeld und Wolfsburg ereignet hatten, wo eine Person für mehr als zehn Missbrauchsfälle verantwortlich gemacht wird.

Ich bitte um Entschuldigung für die Verletzungen, die wir Ihnen als Institution Kirche zugefügt haben. Unsere Kirche hat hier große Fehler gemacht.

Die Aufarbeitung dieser Fälle sei aber meist erst auf Initiative der Betroffenen in Angriff genommen worden, sagte Meister gestern und bekannte: „Die tiefen Verletzungen der Betroffenen sind nicht aufzuwiegen, nicht mit Entschädigungszahlungen, nicht mit Zuhören und nicht mit Beratung. Diese Schuld ist nicht zu begleichen und auch nicht zu entschuldigen.“ Und dennoch bat der Landesbischof gestern genau darum: „Ich bitte um Entschuldigung für die Verletzungen, die wir Ihnen als Institution Kirche zugefügt haben. Unsere Kirche hat hier große Fehler gemacht.“

Landeskirche stockt Stellenanteil für Präventionsarbeit auf

Die Worte des Landesbischofs auf dieser Synode waren nicht unbedacht gewählt. Er war nicht der erste an der Spitze der Kirche, der um Vergebung für diese Taten bat, auch seine Vorgängerin Margot Käßmann hatte das bereits getan. Doch im nächsten Monat wird die Landeskirche ein neues Kapitel in der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und der Präventionsarbeit aufschlagen. So wurde der Stellenanteil für diesen Bereich aufgestockt, die Landeskirche hat eine neue Fachstelle geschaffen, bei der am 1. Juli eine Spezialistin mit einer Vollzeitstelle für die Präventions- und Aufklärungsarbeit zuständig sein wird. Ihr zur Seite gestellt werden zwei Viertelstellen zur Begleitung Betroffener und für zusätzliche Präventionsveranstaltungen oder die Aufarbeitung vor Ort.

Zudem wird die Landeskirche anschließend neue Grundsätze zur Prävention sexualisierter Gewalt und zum Umgang mit derartigen Fällen veröffentlichen und per Rundverfügung an die Kirchenkreise und Gemeinden geben. Darin wird detailliert geregelt, wie die Mitarbeiter kirchlicher Einrichtungen für die Gefahren sensibilisiert werden sollen, mit welchen Schritten interveniert werden soll und welche Hilfeleistungen Betroffene erwarten dürfen.

„Warum habe ich nicht früher etwas gesagt?“

Als Bischof Meister in der Pressekonferenz im Anschluss an seinen Bericht gefragt wurde, warum er ausgerechnet jetzt um Entschuldigung gebeten habe, wo doch ganz Deutschland auf die Missbrauchsfälle und den Vertuschungsskandal im katholischen Erzbistum Köln schaue, sagte er, das könne nicht sein Maßstab sein, und: „Die Frage müsste doch eher lauten: Warum habe ich nicht früher etwas gesagt?“

Von Niklas Kleinwächter