Der Arzt Wjahat Waraich hat in dem polnischen Dorf Medyka, unweit der ukrainischen Grenze, Geflüchtete medizinisch versorgt. Zurück in Deutschland erzählt er von den eindrücklichen Erlebnissen. I Foto: privat, Struck ; Montage: Rundblick

Der hannoversche Arzt Wjahat Waraich hat eine Woche lang, bis zum vergangenen Montag, die Flüchtlingsströme direkt an der polnisch-ukrainischen Grenze betreut – und für die Organisation „Humanity First“ geholfen. Nach der Rückkehr hat er im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick seine Eindrücke geschildert. „Wir können noch viel mehr tun, auch das Land Niedersachsen kann viel mehr tun“, sagt Waraich, der sich für die SPD auch in der hannoverschen Kommunalpolitik engagiert. Er ist Bürgermeister des Stadtbezirks Bothfeld-Vahrenheide. 

Rundblick: Sie kehren gerade aus Medyka zurück, einem kleinen Dorf an der polnischen Grenze zur Ukraine. Dort liegt eine der Hauptrouten der Flüchtlingsströme. Wie sind Ihre Eindrücke? 

„In den sieben Tagen, in denen ich dort war, ist der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine um insgesamt schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen gestiegen.“

Wjahat Waraich

Waraich: In den sieben Tagen, in denen ich dort war, ist der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine um insgesamt schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen gestiegen. Ich vermute, dass es noch mehr werden – und das heißt vor allem für uns in Deutschland, dass wir uns auf weitere Angebote für die Aufnahme und Integration vieler Geflüchteter einstellen müssen. Es geht vor allem um Räume, um Bildungsangebote, um Sprachförderung. Denn alle Erfahrung sagt, dass viele von ihnen nicht so schnell in ihre Heimat zurückkehren, vielleicht auch nicht zurückkehren können. 

Rundblick: Wie sind Ihnen die Menschen begegnet? 

Waraich: Es kommen viele Frauen und Kinder, auch alte Menschen sind darunter. Die meisten von ihnen sind traumatisiert. Viele haben Wunden aber sie kümmern sich nicht darum, ihr Weiterkommen auf der Flucht ist ihnen wichtiger. In den Gesichtern der Menschen kann man die Verzweiflung lesen. Sie sind fassungslos über die Geschehnisse und leben in der Angst, ihre Heimat womöglich für immer verlassen zu müssen – und ihre Verwandten womöglich nicht wieder zu sehen.  

Vor den Bussen bildeten sich lange Schlangen. I Foto: privat

Rundblick: Werden die Flüchtlinge in Polen angemessen versorgt?

Waraich: Das ist ein Problem. Zunächst muss ich sagen, dass Polizei und Militär in Polen großartige Dienste leisten. Sie nehmen den Menschen das Gepäck ab, bringen sie zu den Stationen und sorgen dafür, dass sie die nächsten Ziele erreichen. Auf dem Tesco-Markt in Przemyl, 20 Kilometer entfernt, sind zentrale Busstationen, mit denen die Menschen dann in andere Länder gefahren werden. Die meisten bleiben zunächst in Polen. Das ist auch klar: Viele wollen sich in der Nähe ihrer Männer und Söhne aufhalten, die in der Ukraine kämpfen. Viele polnische Familien nehmen sechs oder sieben Flüchtlinge auf, das ist beeindruckend. Aber die Polen geraten auch an ihre Grenzen. Die ganze Hilfe vor Ort ist privat organisiert. 

„Es gibt sehr wenig medizinisches Fachpersonal.“

Wjahat Waraich

Rundblick: Und die medizinische Versorgung?

Waraich: Das ist eines der Probleme. Als Arzt muss ich proaktiv auf die Menschen zu gehen und meine Hilfe anbieten. Entlang der Flüchtlingsroute in Medyka bieten viele NGOs ihre Hilfe an, auch die UN. Viele polnische Organisationen haben zwar Verbandsmaterial oder Medikamente dabei, aber niemanden, der Kranke behandeln kann oder darf. Bei den UN oder der WHO ist es ähnlich. Es gibt sehr wenig medizinisches Fachpersonal. Wenn etwa die EU dort ein Zelt aufbauen, Liegen anbieten und erste Behandlungen ermöglichen könnte, wäre vieles für den weiteren Weg der Flüchtlinge, der hier ja noch nicht endet, einfacher. Wir wissen zum Beispiel, dass in der Ukraine die Corona-Impfquote nicht hoch ist. Aber an Impfungen ist hier, direkt an der Grenze, momentan gar nicht zu denken. Dabei wäre es viel besser, wenn das hier schon geschähe. 

Eine Fußballmannschaft aus dem Ahrtal spendete rund 300 Hilfspakete an die ankommenden ukrainischen Flüchtlinge. Arzt Wjahat Waraich half beim Verteilen. I Foto: privat

Rundblick: In welchem Zustand sind die Flüchtlinge dort? Welche Gefahren lauern auf sie?

Waraich: Viele Kinder leiden an Erfrierungen an den Fingerkuppen oder den Zehen. Es ist dort sehr kalt, minus 15 Grad in der Nacht. Wenn die Menschen in Medyka ankommen, sind sie meistens total erschöpft – auch deshalb, weil sie oft zwölf Stunden und länger in der Kälte am Grenzübergang von der Ukraine zu Polen warten mussten. Das ist eine EU-Außengrenze, die polnischen Behörden dürfen nicht jeden ungeprüft hineinlassen. Für die, die völlig unterkühlt in Medyka ankommen, ist eine heiße Linsensuppe und eine Tasse heißer Tee schon die halbe Medizin.

„Generell sind sehr viele Helfer aus Deutschland an der Grenze. Darauf können wir als Land schon stolz sein, dass wir Solidarität zeigen.“

Wjahat Waraich

 Ich bin dankbar dafür, dass viele freiwillige Helfer sich auf den Weg machen und denke da beispielsweise an Philipp und Tom, die täglich bis zu 600 Becher mit Tee verteilt haben. Die beiden kommen aus Deutschland, wie überhaupt viele freiwillige Helfer aus Deutschland angereist sind. Ein Fußballverein aus dem Ahrtal, das im Sommer unter der verheerenden Flut gelitten hat, hat 300 Care-Pakete gepackt. Generell sind sehr viele Helfer aus Deutschland an der Grenze. Darauf können wir als Land schon stolz sein, dass wir Solidarität zeigen und auch bereit sind, Opfer zu bringen. Natürlich gibt es in Medyka auch zwielichtige Organisationen, die Frauen mit Kindern ansprechen – und bei denen klar ist, dass es sich um Menschenhändler handelt.

Rundblick: Was könnte direkt an der ukrainischen Grenze besser laufen?

Waraich: Bisher hat die EU wenig dazu beigetragen, dass die Strukturen besser laufen. Es sind einige kleine Dinge, die keine großen Investitionen oder hohen organisatorischen Aufwand erfordern. Die EU könnte etwa ein Lazarett für die Erstversorgung aufbauen, dann könnte man dort auch gleich prüfen, wie es um die Gesundheit der Ankommenden bestellt ist. Es müsste weniger bürokratischen Aufwand geben, wenn Fahrer mit Hilfstransporten direkt in die Ukraine fahren wollen. Bisher wird nicht jeder durchgelassen, und so kann das Material oft nur auf sehr verwinkelten Wegen zum Ziel kommen. Wir bräuchten Zelte, in denen die reichlich angelieferten Hilfsgüter wie Kleidung und Nahrung vor Regen und Verwitterung geschützt werden können. Auch das Land Niedersachsen könnte etwas tun.

Wjahat Waraich im Gespräch mit dem Rundblick. I Foto: Gartz

Rundblick: Was denn?

Waraich: Es geht beispielsweise um die Mediziner. Die Organisation „Humanity First“ hat in Medyka zwei Ärzte, die jeweils für zwei Wochen dort im Einsatz sind. Es könnten mehr sein. So richtig und sinnvoll die privaten Initiativen sind – vor Ort sind jetzt vor allem professionelle Helfer erforderlich. Das Land könnte die Sonderurlaubsregeln anpassen und Dienstausfallentschädigung zahlen, wenn etwa Ärzte sich spontan bereitfinden, für ein paar Tage dort auszuhelfen. Bisher gibt es solche Regeln nicht. Die Freistellung für Ärzte, die in humanitären Notlagen im Einsatz sind, ist nicht klar definiert. Wie wäre es, wenn ein Fonds für die Unterstützung gebildet wird, eine Institution, bei der sich Helfer melden können und vermittelt werden? So etwas könnte auch das Land organisieren. 

Rundblick: Was hat Sie bei Ihrem Einsatz in Medyka besonders berührt?

Waraich: Zu denen, die über die Grenze gekommen sind, zählten auch 50 Waisenkinder, die sich auf den weiten Weg aus der Ostukraine bis nach Polen gemacht hatten. Sie kamen ganz ausgemergelt und niedergeschlagen bei uns an, ihre Flucht hatte fünf Tage lang gedauert. Aber als wir ihnen dann Schokolade anbieten konnten, waren sie auf einmal ganz begeistert, sie hatten leuchtende Augen. Es ist beeindruckend, wie Kinder dann plötzlich reagieren können. Das hat mich tief bewegt. 

Rundblick: Warum engagieren Sie sich so stark für Flüchtlinge? 

Waraich: Ich bin 1987 in Hannover geboren und hier aufgewachsen. Meine Eltern sind selbst Flüchtlinge. Sie mussten Anfang der achtziger Jahre Pakistan verlassen, sie gehören einer religiösen Minderheit an, die dort auch heute noch verfolgt wird. Ich konnte in Deutschland studieren, Arzt werden und mich politisch engagieren. Daraus folgt für mich die Pflicht, etwas von dem zurückzugeben, was ich hier an Zuwendung und Unterstützung erfahren habe.