Der öffentliche Nahverkehr in Niedersachsen steht vor einem Aufschwung sondergleichen. Zumindest in der Theorie. Während die kommunalen Spitzenverbände noch auf eine Verlängerung des ÖPNV-Rettungsschirms für 2022 warten, hat Umweltminister Olaf Lies (SPD) bereits ambitionierte Pläne für den weiteren Ausbau: Im neuen Klimagesetz will er ein Mindestangebot für Busse und Bahnen auch im ländlichen Bereich festschreiben. Die Grünen möchten das Auto in der Fläche verzichtbar machen. Und auch Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) sagt: „Die Herausforderung ist, den ÖPNV so attraktiv zu machen, dass er eine echte Alternative zum eigenen Auto darstellt und das auch im ländlichen Raum.“

LNVG bildet Mobillotsen für Niedersachsen aus

Doch bis es so weit ist, müssen noch viele Hebel umgelegt werden. Als Schaltgetriebe agiert dabei die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG), die das nötige Knowhow für die Verkehrswende in den Rathäusern und Kreisverwaltungen verankern will. Seit Anfang 2021 bildet die LNVG deswegen auch sogenannte „Mobillotsen“ aus. Auf dem Stundenplan stehen dabei längst nicht nur Bus und Bahn, sondern Mobilitätsmanagement von der Stadtplanung über Parkraumbewirtschaftung und Carsharing bis hin zur Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsmittel. Mittelfristig soll ein dadurch auch ein landesweites Verkehrswende-Netzwerk entstehen.

Stephan Börger, Julia Pohlmann und Hendrik Koch von der LNVG – Foto von Link

„Viele kleinere Gemeinden sind mit dem Thema überfordert, weil sie allein tätig sind. Als Einzelkämpfer hat man es schwer“, sagt Stephan Börger, der seit 2016 den Bereich Mobilitätsmanagement bei der LNVG leitet. Mit seinem Team will er deswegen alle kommunalen Vorkämpfer für die Verkehrswende in Niedersachsen weiterbilden und vernetzen. „Wir müssen eine Netzwerkstruktur schaffen, damit sich die Akteure vor Ort auf einer anderen Ebene austauschen können“, sagt Börger. Vorbild für das Projekt ist das „Zukunftsnetz Mobilität NRW“, das die „nachhaltige und vernetzte Entwicklung der Mobilität“ anvisiert. Nach Nordrhein-Westfalen ist Niedersachsen erst das zweite Bundesland, das sich hier auf den Weg macht. „Es geht nicht nur darum, den Antrieb zu ändern, sondern auch die individuelle Verkehrsnutzung“, nennt Börger das Ziel und sagt: „Nur mit dem Nahverkehr allein kann man die Mobilitätswende nicht erfolgreich gestalten, deswegen muss man den Fokus etwas erweitern.“

Harzer Urlaubsticket wäre auch für Ostfriesland interessant

Im Flächenland Niedersachsen sind die Herausforderungen für die Verkehrswende noch größer als im dichtbesiedelten NRW. „Mit Parkraummanagement kann man in kleineren Gemeinden keinen Blumentopf gewinnen“, weiß Börger. Dafür greifen dort andere Ansätze. Welche das sind, erfahren die Teilnehmer der Mobillotse-Lehrgänge aus erster Hand von Praktikern aus den Kommunen. „Wir sehen, dass wenn es gute Beispiele gibt, dass diese auch eine Strahlwirkung auf andere haben“, sagt Börger. Bemerkenswert sind etwa die Carsharing-Angebote in der Region Hannover, die Mobilitätsstation am Bahnhof Vechta, das Mobilitätskonzept in Alfeld (Leine) oder das Harzer Urlaubsticket „Hatix“. „Das ist aus Wernigerode zu uns herübergeschwappt und jetzt ein Erfolgsmodell“, sagt Börger. So ein Touristenticket würde nach Ansicht des Nahverkehrsexperten auch zu anderen Regionen in Niedersachsen gut passen. „Das wäre ein schönes Thema für Ostfriesland“, sagt Börger.

„Mit Parkraummanagement kann man in kleineren Gemeinden keinen Blumentopf gewinnen.“

Bemerkenswert findet er auch den Busverkehr rund um Hameln. „Die haben ihr Angebot ‚Die Öffis‘ sehr stark ausgeweitet – mit einer Absenkung der Fahrpreise.“ Das Vorhaben sei zwar „finanziell ambitioniert“, habe aber zum Anstieg der Fahrgastzahlen geführt. Den Landkreis Hameln-Pyrmont und die Landkreise Cloppenburg und Vechta sieht Börger bei den Nahverkehrsanbieter im ländlichen Raum in der Spitzengruppe. Die Kommunen sollten sich nicht nur auf den klassischen Schul- und Linienbusverkehr konzentrieren. „Uns ist wichtig, ein abgestuftes System anzubieten. Unser Credo ist, dass man das Angebot hierarchisieren muss“, sagt er. An erster Stelle stehe die Schiene, dann kommt der Linienbus und schließlich die „differenzierten Bedienformen“ wie Carsharing, Shuttles, E-Bikes, Elektroscooter oder Mitnahmeservices.

Gelungenes Mobilitätsmanagement kann laut Börger viele Formen haben. „Das fängt schon mit Kleinigkeiten wie komfortablen Fahrradabstellmöglichkeiten an, aber auch Carsharing ist nicht nur in Großstädten ein Thema. Es gibt zum Beispiel auch genossenschaftliche Initiativen“, sagt Börger. Außerdem können Kommunen etwa Mitfahrgelegenheiten organisieren, die Zahl der Elterntaxis reduzieren, Leasingräder anbieten oder bei der Raumordnung aktiv werden. „Es gibt so viele Möglichkeiten, dass wir versuchen, mit den Lehrgängen ein bisschen Übersicht reinzubringen“, sagt Julia Pohlmann, die zusammen mit Hendrik Koch die Ausbildung der Mobillotsen organisiert. Aktuell läuft schon der zweite Lehrgang. „Die Nachfrage ist groß, deswegen planen wir in diesem Jahr auch noch zwei weitere Lehrgänge“, sagt Pohlmann. Der nächste Lehrgang startet am 7. März, einige Plätze sind noch frei.

„Es reicht nicht, wenn die Gemeinde einfach nur ein Auto fürs Carsharing hinstellt. Sie muss das auch aktiv bewerben und verbreiten.“

Die ersten Mobillotsen in Niedersachsen haben im Juni 2021 den Lehrgang zum Mobilitätsmanagement abgeschlossen. | Foto: LNVG/Jens Schulze

Bei den Teilnehmern handelt es sich bisher um Mitarbeiter von großen Kommunen, kleinen Gemeinden, ÖPNV-Aufgabenträgern oder sogar um Klimaschützer. „Diese Vielfalt macht das Ganze nochmal besonders spannend“, freut sich Pohlmann. Jeder Lehrgang besteht aus drei Modulen mit jeweils drei Unterrichtstagen. Im ersten Modul geht es darum, welche Chancen und Möglichkeiten das Mobilitätsmanagement überhaupt für eine Kommune bietet. Im zweiten Teil werden dann konkrete Handlungsmöglichkeiten gezeigt und im Abschlussmodul dreht sich alles um Kommunikation. „Es reicht nicht, wenn die Gemeinde einfach nur ein Auto fürs Carsharing hinstellt. Sie muss das auch aktiv bewerben und verbreiten“, sagt Koch. Er betont auch, wie wichtig die Vernetzung innerhalb der eigenen Kommune ist. „Nur für sich in einem Themenfeld zu arbeiten, das wird für die Verkehrswende nicht ausreichend sein. Wir versuchen alle an einen Tisch zu bringen.“ Der LNVG-Experte wirbt für den stärkeren Austausch zwischen Verkehrsplanung, Tiefbauamt und auch Schulamt. „Es müssen alle über den Tellerrand hinausschauen.“ Koch & Co. wollen außerdem die Lehrgangsteilnehmer untereinander vernetzen. Gemeinsame Veranstaltungen sind angesichts der Corona-Pandemie bislang zwar ausgebremst worden, aber geplant. Ein digitales Community-Tool ist ebenfalls in Arbeit.

Mobilitätsmanagement ist noch keine Pflichtaufgabe

Genauso wie der Klimaschutz ist auch das Mobilitätsmanagement derzeit noch eine freiwillige Aufgabe der Kommunen. Das stellt vor allem kleinere Gemeinden vor Finanzierungsprobleme. „Wir haben Einzelkämpfer, die mit einer halben Stelle im Schulamt sitzen und den Nahverkehr und Mobilität organisieren sollen“, berichtet Koch. Das ist vielleicht nicht optimal, aus Sicht des LNVG-Experten ist es aber das wichtigste, dass sich Kommunen überhaupt mit dem Thema beschäftigen. Koch: „Mobilitätsmanagement macht auch Sinn, ohne eine neue Stelle zu schaffen. Das Wichtigste ist: Einfach anfangen.“