Es wird erst im Herbst sein, vermutlich nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Der niedersächsische Staatsgerichtshof, das höchste Gericht im Lande, verhandelt dann öffentlich über einige Wahleinsprüche. Unter anderem die FDP-Politiker Marco Genthe und Alexander Grafe möchten erreichen, dass die niedersächsische Landtagswahl vom 9. Oktober 2022 für ungültig erklärt wird. Ihre Begründung: Die Landesliste der AfD, die am 2. Juli 2022 in Dötlingen (Kreis Oldenburg) aufgestellt wurde, sei unter rechtswidrigen Einflüssen zustande gekommen. Es habe eine „schwarze Kasse“ gegeben und zumindest den Versuch des jetzigen AfD-Landesvorsitzenden Ansgar Schledde, gute Listenplätze an interessierte Kandidaten zu „verkaufen“, also die freie Wahl der Delegierten zu manipulieren.

Schledde soll jenen Unterstützung versprochen haben, die bereit gewesen wären, im Gegenzug einen Geldbetrag auf ein von ihm geführtes, privates Konto einzuzahlen. Die Vorwürfe sind seit Jahren bekannt, Schledde hat sie wiederholt als „Quatsch“ zurückgewiesen. Die Existenz des Kontos ist allerdings unbestritten. Nach Schleddes Darstellung haben viele AfD-Funktionsträger dort auch eingezahlt. Aber es sei um die Bewirtung und Unterbringung von AfD-Mitgliedern gegangen, vor allem rund um den Landesparteitag im Mai 2021. Eine private Aktion sei das gewesen, diese sei rechtlich einwandfrei.
Aber wie glaubwürdig ist die Einlassung des damaligen Vize-Vorsitzenden, der am 20. April dieses Jahres zum neuen Landesvorsitzenden gewählt wurde? Schledde ist schon seit Jahren die starke Figur der Niedersachsen-AfD, seit wenigen Wochen steht er auch offiziell vorn. Ein aktuelles Urteil des Landgerichts Verden vom 12. März 2024 lässt nun in dem Fall der „schwarzen Kasse“ jedoch aufhorchen. Die drei Richterinnen der ersten Zivilkammer hatten darüber zu urteilen, ob der ehemalige AfD-Landtagsabgeordnete Christopher Emden (der inzwischen wieder als Richter am Amtsgericht Westerstede arbeitet) seine Aussage zur angeblichen „Kriegskasse“ von Schledde unterlassen muss. Schledde hatte das so verlangt – und holte sich beim Landgericht Verden eine Niederlage ab. Der Fall geht jetzt in die nächste Instanz.
Die drei Richterinnen betonten: „Nach dem Ergebnis der von der Kammer durchgeführten Beweisaufnahme ist die behauptete Tatsache jedoch wahr.“ Mit „behauptete Tatsache“ ist der Versuch des Listenplatz-Verkaufs gemeint. Die Richterinnen schreiben dann, die Verwendungszwecke der Überweisungen auf Schleddes Konto deuteten „sehr wohl darauf hin, dass Gelder eingezahlt wurden, um zumindest mittelbar Einfluss darauf zu nehmen, wer zu den Wahlen für den Landtag aufgestellt wurde“. Also meint somit offenbar die 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden, dass es klare Hinweise auf einen Manipulationsversuch zur Listenaufstellung gegeben hat.
Hätte dies in der Konsequenz vielleicht gar eine erfolgreiche Wahlanfechtung zur Folge? Es lohnt sich nun eine nähere Beleuchtung der Vorgänge:
Insgesamt sind Kontobewegungen von mehr als 125.000 Euro zwischen Dezember 2020 und 22. August 2022 vermerkt worden. Zu denen, die unter „KKasse“ oder „xxx“ oder „SVWZ + KKasse Mandatsträger“ eingezahlt haben, gehörten offenbar auch die heutigen AfD-Bundestagsabgeordneten Dirk Brandes, Dietmar Friedhoff, Joachim Wundrak, Jörn König und Thomas Ehrhorn. Sie alle wurden bei der AfD-Landesmitgliederversammlung Anfang Dezember 2020 auf gute Listenplätze zur Bundestagswahl gesetzt. Am Morgen dieser Landesmitgliederversammlung hatte das Schledde-Lager viele Mitglieder mobilisiert und eine Mehrheit für die eigenen Vorschläge erreicht.
Weitere Einzahler auf das Konto sind die heutigen Landtagsabgeordneten Klaus Wichmann, Stefan Marzischewski, Jens Brockmann, Dennis Jahn und Harm Rykena. Sie kamen am 2. Juli 2022 auf gute Listenplätze zur Landtagswahl, damals wurde das entschieden durch eine Delegiertenversammlung. Auch in dieser Versammlung hatten die Schledde-Anhänger eine Mehrheit. Seit Ende 2020 war bekannt, wie gut Schledde in der AfD Mitgliederscharen bewegen konnte, seine Machtstellung war damals schon unangefochten. Nun liegen die einzelnen Einzahlungen von Abgeordneten zwischen 160 Euro und Beträgen, die über 5000 Euro hinaus reichten. Das deutet auf zufällige, keinem strukturellen Muster folgenden Verfahren. Zudem endeten die Transaktionen im Februar 2022 – also fünf Monate vor dem Termin der Landtagswahl-Listenaufstellung. Diese Hinweise sprechen gegen den vermuteten „Listenplatz-Verkauf“.
Auch in anderen Parteien gibt es Mandatsträger-Abgaben an die Partei zum Zweck der Wahlkampffinanzierung. So ist es nicht unüblich, von einem gutplatzierten Listenbewerber einen Geldbetrag für den Wahlkampf zu verlangen. Nur geschieht das in der Regel für alle Parteimitglieder transparent, mit einheitlichen Beträgen und über die offiziellen Konten der Partei. Hier aber war Schleddes Privatkonto die Basis für die Transaktion – und das teilweise zu der Zeit, als er noch ohne formell hohe Funktion im Landesvorstand war, denn diese bekam er erst im Mai 2022.
In den gut anderthalb Jahren zwischen Dezember 2020 und August 2022 sind 167 Zahlungseingänge verbucht worden, manches davon offensichtlich auch ohne AfD-Bezug. Das Landgericht Verden äußerte an einer Stelle seiner Urteilsbegründung den Verdacht, dass „die Überweiser den wahren Verwendungszweck verschleiern“ wollten. Der Begriff „Kriegskasse“ weise auf geplante Ausgaben für die Wahlkampagne hin und lenke ab von möglichen finanziellen Vorleistungen für eine Unterstützung Schleddes bei den parteiinternen Wahlen.
Emden galt lange als erbitterter parteiinterner Gegner des heutigen Landtagsfraktionsvorsitzenden Klaus Wichmann – da beide aus dem Kreisverband Verden kommen und beide Juristen sind. Inzwischen hat Emden die AfD verlassen. Im Oktober 2022, wenige Tage vor der Landtagswahl, erklärte Emden in einem ZDF-Interview, Schledde habe von ihm 4000 Euro als Einzahlung auf die „Kriegskasse“ verlangt – andernfalls könne er nicht für ihn mobilisieren.
Schledde bestritt das sofort. Emden galt trotzdem fortan als Kronzeuge für die Existenz der „Kriegskasse“, zog sich aber seither aus der Öffentlichkeit zurück. Im Urteil des Landgerichts Verden wird nun ein längeres Telefonat erwähnt, das Emden mit Schledde im März 2022 geführt hatte. In der Urteilsbegründung werden Details erwähnt: Emden sei seit Herbst 2021 „mehrfach aufgefordert worden, einen zunächst nicht der Höhe nach konkretisierten Betrag“ auf Schleddes Konto einzuzahlen. In dem Telefonat im März sei dann erstmals konkret von 4000 Euro die Rede gewesen.

Emdens Frau, eine Anwältin, die auch AfD-Mandanten vertrat, habe das Telefonat mitgehört und dann auch noch direkt mit Schledde geredet. Bei der Gelegenheit habe Schledde die Ehefrau gebeten, auf ihren Mann einzuwirken. In dem Telefonat habe Schledde dann auch erwähnt, dass andere Kandidaten „auch einen Betrag in ähnlicher Größenordnung gezahlt hätten“. Auch sei die Möglichkeit erwähnt worden, das Geld auf andere Weise als über eine Einzahlung auf die „Kriegskasse“ zu übertragen.
Das Landgericht Verden kommt zu dem Schluss, dass der Rückgang der Einnahmen aus der „Kriegskasse“ seit Februar 2022 ein Grund gewesen sein könnte, bei anderen möglichen Landtagskandidaten – hier also Emden - nun umso eindringlicher aufzufordern, Beträge einzuzahlen. Schledde hat eine ganz andere Erinnerung an das Telefonat. Auf Rundblick-Anfrage bestreitet er vehement, dass es dabei um Geld und einen Listenplatz gegangen sei. „Das war damals außerdem noch viel zu weit von der Listenaufstellung entfernt.“ Die Darstellung von Emden und seiner Frau sei frei erfunden.
Die Position von Christopher Emden ist das zentrale Argument der FDP-Politiker Genthe und Grafe, die Landtagswahl anzufechten. Die FDP-Politiker verweisen auf ein wenige Wochen altes Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlwiederholung der Bundestagswahl in Berlin, wonach als „Wahlfehler“ auch Einflussnahmen auf die Freiheit und Unabhängigkeit der parteiinternen Wahl angesehen werden könnten. Die „geheimen Geldflüsse“ werden dort erwähnt. „Schon die konkrete Möglichkeit ist bereits ausreichend, um einen schweren Wahlfehler bei der Vergabe von Mandaten anzunehmen“, erklärt Genthe auf Anfrage des Politikjournals Rundblick.
Beim Staatsgerichtshof liegt noch ein weiterer Einspruch des einstigen AfD-Politikers Friedhelm Pöppe aus Elsfleth (Kreis Wesermarsch). Er erhebt in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Hannover schwere Anschuldigungen. So habe ein heutiger AfD-Landtagsabgeordneter auf merkwürdigen Wegen eine Jagdberechtigung für Schledde besorgt – und dafür sei ihm zur Belohnung die Zahlung von 4000 Euro für einen guten Listenplatz erlassen worden. Pöppe selbst erklärt noch, Schledde habe auch ihm einen Listenplatz für 4000 Euro angeboten. Das sind indes zunächst lediglich Behauptungen, die – anders als bei Emden – bisher auch nicht mal ansatzweise gerichtlich geprüft worden sind. Schledde sagt dazu: „Mit Herrn Pöppe habe ich noch nie ein Wort gewechselt.“ Diskussionen über die Jagdberechtigung habe es gegeben, er habe auch Bestätigungen von anderen AfD-Abgeordneten, dass er in ihrem Revier jagen darf.
Schledde, inzwischen AfD-Landesvorsitzender, nennt die Vorwürfe „absurd“. Die Kasse sei angelegt worden, damit logistische Zwecke der Mitgliederbetreuung möglich wurden. Dass hier gute Platzierungen „verkauft“ worden seien, sei abwegig – und lasse sich auch aus den Konto-Bewegungen keineswegs ablesen. Alles, was geschehen sei, stehe im Einklang mit Recht und Gesetz. Das habe auch das Landeskriminalamt bei der ersten Beurteilung im Herbst 2022 so eingeschätzt. Die aktuell erhobenen und vom Landgericht Verden zugespitzten Vorwürfe seien schon vor anderthalb Jahren gründlich abgewogen und selbst von der Staatsanwaltschaft als unerheblich eingestuft worden. Insofern wundere er sich sehr, dass dieser alte Fall jetzt wieder „hervorgekramt“ werde.
Sollte der Staatsgerichtshof zu dem Schluss kommen, dass es tatsächlich mehrere gezielte Versuche eines „Verkaufs“ von Listenplätzen über geheime Kanäle gegeben hat, könnte das Zweifel an der demokratischen Aufstellung der AfD-Landesliste bei der Delegiertenversammlung am 2. Juli 2022 in Dötlingen wecken. Die Manipulation der AfD-Landesliste hätte zwar keinen Einfluss auf die Stärke der Fraktionen im Parlament, wohl aber auf die Frage, wer für die AfD im Landtag arbeitet. Die Betrogenen wären in diesem Fall die AfD-Delegierten, die in ihrer freien Wahl der Landtagskandidaten eingeschränkt worden wären.
Bisher spricht noch wenig dafür, dass der Staatsgerichtshof eine nähere Untersuchung anstellt und auch die damaligen AfD-internen Abläufe näher untersucht. Auch die Landeswahlleiterin hatte darauf bereits bei ihrer Wahlprüfung verzichtet. Spannend dürfte jedoch die Frage sein, ob die Staatsanwaltschaft Hannover weitere Hinweise gefunden hat, als sie Mitte April die AfD-Büros beim Landesverband und bei Schleddes Kreisverband durchsuchen ließ. Falls der bisher unwahrscheinliche Fall eintritt und der Staatsgerichtshof die Landtagswahl für ungültig erklärt, dürfte die Wiederholung der Wahl 2025 stattfinden – vielleicht parallel zur Bundestagswahl.