Von Lothar Eichhorn

„Niedersachsen ist das Agrarland Nummer eins.“ So heißt es unter anderem im Koalitionsvertrag, aber auch in Veröffentlichungen, Vorträgen und Pressetexten über das Land. Dass Niedersachsen das „Agrarland Nummer eins“ ist, scheint eine feststehende Tatsache zu sein. Mit dieser Pole-Position macht das Land Werbung für sich. Aber stimmt das eigentlich? Ist nicht auch der Freistaat Bayern ein großes Agrarland, womöglich gar größer als Niedersachsen? Die Antwort ist von statistischer, vor allem aber von ideologischer und marketingtechnischer Bedeutung.

Text – Foto: GettyImages/ollo

Zunächst ist begrifflich zu klären, was damit gemeint ist, wenn man vom „Agrarland“ beziehungsweise Landwirtschaft spricht. „Landwirtschaft, die Nutzungsweise des Bodens zum Zwecke der Erzeugung pflanzlicher und tierischer Nahrungsmittel und Rohstoffe“, heißt es in einem älteren Bertelsmann-Lexikon. In Wikipedia heißt es ähnlich: „Als Landwirtschaft wird der Wirtschaftsbereich der Urproduktion bezeichnet. Das Ziel der Urproduktion ist die zielgerichtete Herstellung pflanzlicher oder tierischer Erzeugnisse auf einer zu diesem Zweck bewirtschafteten Fläche.“ Die amtliche Wirtschaftssystematik kennt in diesem Sinne einen Wirtschaftsabschnitt „Land- und Forstwirtschaft, Fischerei“, der sich in drei Abteilungen untergliedert: 01 Landwirtschaft, Jagd; 02 Forstwirtschaft und Holzeinschlag; 03 Fischerei und Aquakultur.

Viele kleine Betriebe in Bayern

Die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen weisen für Bundesländer Daten über die Bruttowertschöpfung der „Land- und Forstwirtschaft, Fischerei“ aus. Diese lag 2018 für Niedersachsen bei 4,3 Milliarden Euro. Das waren 1,6 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung des Landes, aber immerhin ein Anteil von 18,4 Prozent dieser Branche am Bundesergebnis. Bayern aber wies eine Bruttowertschöpfung der „Land- und Forstwirtschaft, Fischerei“ von 4,8 Milliarden Euro aus. Das waren sogar 20,7 Prozent Anteil an Deutschland und ein Anteil von 0,9 Prozent an der gesamten bayerischen Wertschöpfung. Nach dieser Rechnung ist also Bayern die Nummer eins, was auch nicht besonders verwundert, denn Bayerns Fläche und Bevölkerung ist größer als Niedersachsens. Bayern lag auch in fast allen früheren Jahren – Ausnahmen sind 2013 und 2014 – vor Niedersachsen.


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Betrachtet man aber ausschließlich die Landwirtschaft im engeren Sinne von Ackerbau und Viehzucht – lässt Forstwirtschaft, Aquakultur und Fischerei also außer Betracht – liegt Niedersachsen vor Bayern. Dies ermitteln die „Regionalen Landwirtschaftlichen Gesamtrechnungen“, deren Ergebnisse – zuletzt für 2017 veröffentlicht – in die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen eingehen. 2017 lag die Bruttowertschöpfung der Landwirtschaft im engeren Sinne in Bayern bei 3,7 Milliarden und in Niedersachsen bei 4,5 Milliarden Euro. Insofern ist Niedersachsen tatsächlich Agrarland Nummer eins.

Eine nähere Betrachtung nach einzelnen Erzeugnissen zeigt, dass Bayerns stärker kleinbetrieblich ausgerichtete Landwirtschaft besondere Schwerpunkte in der Produktion von Getreide, Milch und Rindern hat – hier ist überall Bayern die Nummer eins. Niedersachsen ist hingegen unter den Ländern führend in der Produktion von Kartoffeln, Zuckerrüben und Obst. Das Land ist aber nicht nur Kartoffelkompetenzregion, sondern vor allem in der Produktion von Schweinen, Geflügel und Eiern bundesweit führend.

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Warum gibt es derzeit kaum Diskussionen, ob nun Bayern oder Niedersachsen das „Agrarland Nummer eins“ ist? Nur in ihrem jüngsten Agrarbericht weist die bayerische Agrarministerin – für bayerische Verhältnisse äußerst dezent und ungewöhnlich zurückhaltend – darauf hin: „Bayern ist das Agrar- und Forstland Nummer eins.“ Ministerpräsident Söder erklärte jüngst, Bayern sei „Rekordhalter und überall an der Tabellenspitze“ und die Nummer eins beim Wirtschaftswachstum, der Sicherheit, den Finanzen, den Bildungsausgaben und bei der Zahl der Feiertage.

Bei so vielen Nummer-eins-Hits braucht man in München anscheinend keinen weiteren Skalp am Gürtel. Im Gegenteil: Teil der überaus erfolgreichen bayerischen Erzählung ist es seit jeher, dass der ehemalige Agrarstaat Bayern sich aus seiner Rückständigkeit herausgearbeitet habe und heute ein ultramoderner Industrie- und IT-Standort ist. Bayern will eben kein Agrarland mehr sein.


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Warum legt andererseits Niedersachsen so viel Wert darauf, hier die Nummer eins zu sein? Zum einen ist das Land nicht unbedingt als Vorreiter oder Tabellenführer bekannt. Da ist es doch schön, wenn man wenigstens in einem Teilbereich die Nummer eins sein kann, wenn man sich sonst fast überall im soliden, aber unspektakulären Mittelfeld aufhält. Zum anderen ist Niedersachsens Landwirtschaft, vor allem die im Westen des Landes, in der Tat ungewöhnlich erfolgreich und innovativ. Den Landwirten im Oldenburger Münsterland und im Emsland ist es gelungen, die gesamte landwirtschaftliche Wertschöpfungskette in die Hand zu bekommen. Damit haben sie das Fundament für einen in ganz Deutschland bewunderten lang andauernden Wirtschaftsaufschwung ihrer Region gelegt.

Die fetten Jahre sind vorbei, und das muss nicht schlecht sein.

Freilich ist das nicht ohne Risiko. Im vergangenen Jahr sank die Bruttowertschöpfung der „Land- und Forstwirtschaft, Fischerei“ in Niedersachsen um 15,6 Prozent, während alle anderen Branchen mehr oder weniger starke Zuwächse erwirtschafteten. Obwohl ja immer gegessen und getrunken wird und man daher annehmen sollte, dass die Landwirtschaft krisensicher sei, ist es tatsächlich so, dass es keine Branche gibt, die so starke Schwankungen der Wirtschaftsentwicklung aufweist wie diese. Sogar die sehr konjunkturanfällige Bauwirtschaft weist eine gleichmäßigere Entwicklung der Bruttowertschöpfung auf.

Im Ergebnis des Jahres 2018 machte sich die durch Hitze und Trockenheit verursachte Missernte bemerkbar, für 2019 ist das auch zu erwarten. Auch die Bestände und Schlachtmengen von Rindern und Schweinen gingen zurück: Anfang des Jahrzehnts wurden noch mehr als 9 Millionen Schweine gehalten. 2018 gab es zwar immer noch mehr Schweine als Niedersachsen, aber die Anzahl ging auf knapp 8,4 Millionen zurück. Nur die Geflügelbestände (sowie, dem Wolf zum Trotz und zur Nahrung, die Schafbestände) stiegen weiter. Der Import von Futtermitteln, der Klimawandel, drängende Probleme der Nitrat-Belastung des Grundwassers aufgrund der Intensivtierhaltung und auch der zunehmende Anteil von Menschen, die sich fleischlos oder zumindest fleischärmer ernähren wollen, erfordern ein Umsteuern und Umdenken. Da passt es nicht ins Bild, wenn der Flächenanteil des Öko-Landbaus in Niedersachsen nur bei 3,5 Prozent liegt und das Nummer-eins-Land hier auf Platz 16 rangiert.

Sei Niedersachsen nun die Nummer eins oder Nummer zwei, je nach Betrachtung, eines ist immerhin unumstritten: Eine Spitzenposition behält man nur durch fortlaufende Innovationen, weil auch die Konkurrenz nicht schläft und die Rahmenbedingungen sich laufend ändern. Diese Innovationen müssen energischer als bisher in Richtung Tierwohl, Nachhaltigkeit, Schutz der natürlichen Ressourcen und Anpassung an veränderte Kundenwünsche sein. Die fetten Jahre sind vorbei, und das muss nicht schlecht sein.

Prof. Lothar Eichhorn war viele Jahre lang im Landesamt für Statistik in Niedersachsen tätig. In unregelmäßigen Abständen berichtet er im Politikjournal Rundblick über besondere Entwicklungen.