In Niedersachsen rücken Wirtschaft und SPD-Spitze derzeit wieder enger zusammen. Spätestens seitdem sich Stephan Weil als bundesweiter Vorkämpfer für niedrige Industriestrompreise ausgezeichnet hat, ist er bei den Unternehmerverbänden Niedersachsen (UVN) nicht nur Stargast Nummer eins. Auch die inhaltlichen Überschneidungen zwischen dem SPD-Landeschef und den Arbeitgebern werden größer. Vor allem wächst der gemeinsame Ärger über die Bundesregierung.

Seinen Auftritt beim „Tag der niedersächsischen Wirtschaft“ nutzte Weil dementsprechend für eine ausführliche Schelte der Bundesregierung. Diese kritisierte er unter anderem dafür, dass sie auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Unrechtmäßigkeit des zweiten Nachtragshaushalts 2021 nicht schon viel früher eine Antwort gefunden hat. Nachdem klar war, dass der 60 Milliarden Euro schwere Klima- und Transformationsfonds (KTF) auf der Kippe stand und es kein „Selbstläufer“ im Sinne der Ampelkoalition werden würde, hätte man umgehend an einem Ausweichszenario arbeiten müssen, rügte Weil. „Das ist keine Raketenwissenschaft“, betonte der ehemalige OB und vormalige Kämmerer der Landeshauptstadt. Diesen Patzer der Bundesregierung bezeichnete er als demokratieschädigend: „Wir haben schon genug andere Themen, bei denen wir Probleme bei der Adressierung an die Bürger haben. Das hätten wir nicht gebraucht.“
Der Ministerpräsident warnte vor den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen einer Haushaltskrise. „Wenn infrage gestellt wird, ob die zugesagte Förderung auch wirklich kommt, entsteht ein Scherbenhaufen. Man darf das Vertrauen in den Standort Deutschland nicht beschädigen“, sagte Weil. Die grüne Transformation des Stahlkonzerns Salzgitter AG ist zwar zunächst nicht in Gefahr, die vom Bund zugesagten 700 Millionen Euro werden fließen, das Land steuert 300 Millionen hinzu. „Wir sind froh und dankbar, dass wir den Förderbescheid bereits in den Händen halten“, sagte Salzgitter-Sprecher Thorsten Möllmann auf Rundblick-Nachfrage.
Für andere Projekte des EU-Wasserstoff-Förderprogramms „IPCEI“ könne die Haushaltskrise jedoch unangenehme Folgen haben, weil die Förderanträge noch in Brüssel festhängen, mahnte Weil. Einschließlich des „Salcos“-Programms in Salzgitter gibt es in Niedersachsen ein Dutzend Wasserstoff-Großprojekte, für die der Bund insgesamt 2,4 Milliarden Euro zugesagt hat. Die 800 Millionen Euro, die Niedersachsen für diese Projekte „zusammengekratzt“ habe, stehen laut Weil nicht infrage.
„Als Land können wir mit dem Verfassungsgerichtsurteil leben“, sagte der Regierungschef. Er bezeichnete es auch als Fehler, bei der Finanzierung von Wirtschaftsförderung in Anlehnung an die öffentliche Haushaltsplanung immer nur in Ein-Jahres-Schritten zu denken. „Kein Unternehmen sucht eine Zusammenarbeit für zwölf Monate“, stellte er klar. Andere Wasserstoffprojekte betreffen die Umrüstung von Kavernen zu Wasserstoffspeichern, den Umbau von Erdgas- zu Wasserstoffleitungen oder den Bau von Elektrolyseuren.
Im Streit über niedrigere Energiekosten für das produzierende Gewerbe versprach der Ministerpräsident: „Die Landesregierung wird mit ihrem Engagement in dieser Frage unablässig weitermachen – unabhängig von Parteibüchern.“ Die Senkung der Stromsteuer sei zwar ein erster Schritt in die richtige Richtung, wovon sogar die Bäckereien profitieren. Für das Autoland Niedersachsen, dessen Wirtschaftskraft künftig immer mehr auch von E-Auto-Batterien abhängt, reiche das aber längst nicht aus.

„Dass politisch zugelassen wird, dass die Batteriezellenproduktion hierzulande strukturell uninteressant wird, halte ich für einen Riesenfehler“, bemängelte Weil. Zudem forderte er die Bundesregierung auf, sich aktiv für die Ansiedlung von Halbleiterindustrie in Deutschland zu bemühen. „Wir befinden uns in einer Phase, in der Weichen gestellt werden“, sagte der SPD-Politiker und betonte: „Jetzt werden die Claims verteilt, nicht in zehn Jahren.“
Für energieintensive Betriebe ist Deutschland derzeit ein schwieriger Standort. „Die Energiepreise sind absolut nicht wettbewerbsfähig – selbst im EU-Inland nicht“, sagte Anne-Marie Großmann von der GMH-Gruppe aus Georgsmarienhütte. Die promovierte Volkswirtin, die das Familienunternehmen in zweiter Generation führt, beschreibt das Geschäftsmodell des Stahlkonzerns wie folgt: „Wir sind ein großer Recyclingbetrieb. Bei uns kommt Schrott in den Ofen und mit dem Einsatz von viel Energie wird daraus neuer Stahl.“ Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hätten die Energiekosten etwa fünf Prozent der Gesamtausgaben ausgemacht, jetzt habe sich der Anteil auf zehn Prozent annähernd verdoppelt.
„Die jetzt angedachte Steuerminderung über Stromsteuer und Spitzenausgleich würde diesen Betrag um noch nicht mal ein Prozent absenken. Dieser Vorschlag ist somit keine Entlastung“, stellte Großmann klar und bekräftigte die Forderung nach einem Brückenstrompreis. „Wir haben viel zu wenig Energie – und die ist zu teuer und auch nicht grün“, sagte die Stahl-Unternehmerin. Gerne würde ihr Konzern, der frühzeitig auf Elektrifizierung gesetzt hat, selbst mehr Ökostrom erzeugen. Doch der Aufbau von Photovoltaik-Anlagen sei mit großen Hürden verbunden und Windräder seien in den historisch alten Waldstandorten rund um die GMH-Standorte in der Regel nicht erlaubt.

Alle Probleme werden Wind- und Solarstrom aus Sicht der Industrie auch nicht lösen. „Ein Stahlwerk kann sich schlecht an den Produktionszeiten von günstigem Strom orientieren. Unser Betrieb muss 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche laufen“, sagte Großmann. Große Hoffnungen setzt sie deswegen auf den Energieträger Wasserstoff und sie liebäugelt auch immer noch mit der Kernkraft. „Wir brauchen eine Grundlastfähigkeit – auch in der Perspektive“, so die GMH-Vorständin.
Für Wirtschaftsminister Olaf Lies hat sich das Thema Atomkraft jedoch längst erledigt. „Irgendwann muss man aufhören, über vergossene Milch zu diskutieren“, sagte er. Man werde kein Unternehmen mehr finden, das noch bereit sei, in Deutschland ein Kernkraftwerk zu bauen. Der SPD-Politiker will den Fokus auf eine ganz andere Baustelle legen: „Wir brauchen eine Reduzierung der Strompreise insgesamt, denn es ist nicht die Erzeugung, die so teuer ist. Wir müssen an das Strommarkt-Design ran.“ Dass das bisherige Merit-Order-Prinzip fehlerhaft ist, sei nach der russischen Invasion zwar offensichtlich geworden. Eine Reform sei jedoch bislang ausgeblieben. „Es ist echt fatal, dass wir das erlebt und immer noch keine Antwort darauf gegeben haben“, kritisierte Lies.

Auf die Frage, warum die deutsche Wirtschaft beim Wirtschaftswachstum im Vergleich zu anderen Ländern schwächelt, hatte Ministerpräsident Weil eine einfache Antwort: „Wir sind überreguliert, wir sind zu kompliziert. Deswegen sind wir zu langsam und deswegen sind wir zu teuer.“ Zu diesem Ergebnis kommt auch UVN-Präsident Andreas Jäger bei seiner Zustandsanalyse. „Unternehmen hierzulande beschränken sich zunehmend auf Ersatz- und Ertüchtigungsinvestitionen, während Neuinvestitionen auf die globalen Märkte verlagert werden“, sagte der weltweit tätige Familienunternehmer aus Hannover.
In der Wirtschaftspolitik sieht Jäger die Hauptaufgabe der Bundesregierung deshalb darin, das private Kapital für die Transformation zu aktivieren. Durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil, das wohl das Aus für viele Anschubfinanzierungen bedeutet, werde das nicht einfacher. „Die Bundesregierung hat offenbar nicht in Szenarien gedacht“, kritisierte auch Jäger das Fehlen eines „Plan B“ in Berlin.

Aus Sicht des UVN-Präsidenten kann die Ampelkoalition das Wirtschaftswachstum aber auch ohne Sondervermögen ankurbeln. „Die Investitionen sind in den vergangenen Jahren zurückgegangen, weil die Abgabenlast in Deutschland zu hoch ist und die bürokratischen Anforderungen zu komplex sind“, sagte Jäger. Eine Senkung der Unternehmenssteuern sei möglich, wenn gleichzeitig die staatlichen Konsumausgaben gesenkt werden. „Das beginnt bei den massiv gestiegenen Sozialtransfers und endet bei einer Restrukturierung der aufgeblähten Bundesverwaltungen.“ Die Politik müsse Prioritäten setzen und die Folgen dieser Entscheidungen erklären. „Die Zeit, in der man es allen recht machen konnte, ist vorbei“, betonte Jäger.
Wirtschaftsminister Olaf Lies spricht unterdessen von einer „international großen Verunsicherung“ bei vielen Investoren. Sie alle schauten gespannt darauf, wie es Deutschland gelingen könne, aus den gegenwärtigen Haushaltsengpässen herauszukommen.
