Das Buch hätte ihm vermutlich gut gefallen, weil es so lange Abschnitte enthält, die sich vor allem den theoretischen Debatten widmen. Und für ihn waren sie immer wichtig, die Theorien. Nicht abgehoben und kühl, sondern leidenschaftlich – als Beitrag zur Weltverbesserung. In dem umfangreichen Werk von Philipp Kufferath, knapp 800 Seiten stark, werden nun aber weniger vertiefte Analysen dargestellt. Vielmehr zeigt der 37-jähriger Soziologe, wie der vom ihm beschriebene Politiker in die aufgewühlten Diskussionen der Intellektuellen eingebunden war, wie er sich dafür auch aufrieb.

Mal stand er hier, mal dort, stets gab es Gegner, von denen nicht selten einige im eigenen linken Lager zu finden waren. Erbitterter Streit war fast immer an der Tagesordnung – und die Hauptfigur immer mitten drin. Es geht um Peter von Oertzen, eine sonderbare, eigenwillige und in mancherlei Hinsicht herausragende Figur der niedersächsischen Landespolitik. Knapp zusammengefasst lässt er sich so beschreiben: Jahrgang 1924, als junger Mann NS-Anhänger, nach dem Krieg dann jemand, der für eine sozialistische Politik stritt und dafür in seiner Partei, der SPD, eine Mehrheit zu schaffen versuchte. Ein Leben für die Politik.

Leitfigur der linken Sozialdemokraten

Viele Niederlagen und einige Erfolge kennzeichnen Oertzens Weg. Er war eine Leitfigur der Linken bei den Sozialdemokraten, prägte vor allem den SPD-Bezirk Hannover, war von 1970 bis 1974 niedersächsischer Kultusminister und in den Jahren danach nicht nur eine Autorität als Landespolitiker, Debattenredner im Landtag und Lieferant theoretischer Fundamente – sondern auch ein Vorbild an Tugenden und positiven Eigenschaften, wie sie auch heute in der Politik nur selten sind. Von Oertzen, nicht frei von Eitelkeit, stellte seine Ziele und Überzeugungen gleichwohl über die eigene Karrierepläne, schreckte nicht selten vor der letzten Konsequenz im Machtkampf zurück und zog den Kürzeren.

Und er war eine moralische Instanz, die den als richtig erkannten Weg kompromisslos auszufechten bereit war – auch wenn er sich dafür mit alten Weggefährten überwerfen musste. Obwohl ein Linker und anfangs Anhänger des Rätesystems, hatte er eine tiefe Abneigung gegen die SED-Diktatur in der DDR. Als Wissenschaftler wie Wolfgang Abendroth sich anschickten, gegen den DDR-Dissidenten Rudolf Bahro und für die Haltung des Regimes Partei zu ergreifen, warf sich von Oertzen mit aller Konsequenz für Bahro in die Debatte – und zeigte einmal mehr seinen Blick für Menschlichkeit jenseits jeder Parteilichkeit und Ideologie, die für andere sozialistische Theoretiker oft wichtiger war.

Mit 80 Jahren verließ er die SPD

Peter von Oertzen hatte Schwächen. Ein glänzender Denker und Redner, der die Zuhörer fesseln konnte – aber nicht unbedingt ein guter Organisator war. Als Herausgeber theoretischer Schriften kam er zuweilen in Verzug, als Minister geriet er ins politische Kreuzfeuer und spürte schnell, in sehr viele Kompromisse gezwungen zu werden. Es war die Zeit des Radikalenerlasses, den von Oertzen wohl murrend mittrug, auch wenn er linke Gruppen und Wissenschaftler gegen Vorverurteilungen in Schutz nahm. Die Sorge, von der DDR gesteuerte Kommunisten könnten den Staat unterwandern, war damals auch in der SPD verbreitet. Von Oertzen wagte die Auseinandersetzung mit den „Kanalarbeitern“, den Konservativen in der SPD, vor allem mit Egon Franke in Hannover. 1959 zählte er, Anhänger einer Demokratisierung der Wirtschaft, zu den wenigen SPD-Bundesparteitagsdelegierten, die gegen das „Godesberger Programm“ protestierten.

Als er dann Kultusminister wurde, hatte die SPD-Alleinregierung das Ressort um 40 Stellen erweitert, unter anderem um Planungsreferenten, da in den Siebzigern die Planungseuphorie groß war. Von Oertzen war damals auch für Hochschulen zuständig, er baute die Geisteswissenschaften aus und förderte einige linksstehende hannoversche Professoren wie Peter Brückner, Oskar Negt und Jürgen Seifert. Die Siebziger waren auch Jahre voller Ärger und Streit. Als Brückner 1972 in Verdacht geriet, RAF-Mitgliedern geholfen zu haben, musste von Oertzen ihn suspendieren, woraufhin Seifert heftig gegen diesen Schritt polemisierte und dabei vor zugespitzten NS-Vergleichen nicht zurückschreckte. Er geriet in eine Zwangssituation, einerseits der Loyalität in der Regierung verpflichtet, andererseits einer Nähe zu den linken Professoren und Freunden folgend.

Aus eigenem Antrieb war nach vier Jahren die Ministerzeit für ihn vorbei, er blieb aber der SPD-Politiker im Landtag mit der höchsten Autorität und Integrität. Vermutlich deshalb, weil man ihm stets abnahm, dass ihm die Sache wichtiger war als die eigene Person, und dass er in der Politik mehr sah als tagesaktuelles Management von Problemen. Er sah darin einen Auftrag zur Gestaltung der Gesellschaft. Das gilt auch für die schwere Zeit der Partei nach 1976, als Überläufer aus der SPD/FDP-Koalition für den Aufstieg von Ernst Albrecht (CDU) zum Ministerpräsidenten sorgten. Er half und förderte seine SPD, bemühte sich um die Programmarbeit, knüpfte hinter den Kulissen erste Kontakte zu den neu entstehenden Grünen, haderte in späteren Jahren aber immer öfter mit seiner Partei, auch und vor allem, als sein einstiger Ziehsohn Gerhard Schröder 1998 Kanzler wurde und später dann die Hartz-Reformen durchsetzte.

Als 80-Jähriger verließ er von Oertzen die SPD und schloss sich der „Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ an. Dieser Sozialdemokrat war jemand, den man auch in späten Jahren anrufen und fragen konnte, der viel erzählte und zuhörte, der den intellektuellen Disput über alles liebte, Widerspruch geduldig ertrug und selten abgehoben oder arrogant wirkte. Eine große Persönlichkeit, die es bis ganz nach oben in der Politik nie geschafft hat. Vielleicht, weil er dafür zu gradlinig und nicht skrupellos gewesen war. Vor wenigen Tagen war sein zehnter Todestag, der SPD-Bezirk Hannover will demnächst an ihn erinnern. (kw)

Philipp Kufferath: Peter von Oertzen, 1924-2008, Wallstein-Verlag 2017, ISBN 978-3.8353-3049-8, 797 Seiten, 49,90 Euro.