6. Sept. 2017 · 
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Pro & Contra: Brauchen wir mehr Ehrlichkeit in der Politik?

So manche Fakten, die die Politik präsentiert, sind nur scheinbar logisch und am Ende doch nicht wahr. Diejenigen, die über sogenannte Fake News in sozialen Netzwerken besorgt sind, setzen sich selbst dem Verdacht aus, nicht immer ganz ehrlich zu argumentieren. Brauchen wir mehr Ehrlichkeit in der Politik? Lesen Sie dazu ein Pro & Contra von Martin Brüning und Klaus Wallbaum. [caption id="attachment_14874" align="aligncenter" width="780"] Pro & Contra: Martin Brüning (li.) und Klaus Wallbaum[/caption] PRO: Die politische Debattenkultur ist inzwischen ein wenig verlottert. Dabei bräuchten wir die kleinen wahren Lügen in der Politik überhaupt nicht. Wollen wir wieder mal ein wenig ehrlicher sein?, fragt Martin Brüning. CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann habe das Turbo-Abi eingeführt, Stephan Weil habe es wieder abgeschafft. Die Geschichte hörte sich offenbar einfach zu gut an, um sie nicht in Weils Rede am Wochenende auf dem SPD-Parteitag aufzunehmen. Das Problem ist nur: Sie stimmt nicht. Die Einführung des Abiturs nach acht Jahren war schon lange beschlossen, als Althusmann ins Kultusministerium wechselte. In seine Amtszeit fiel lediglich der erste Jahrgang, der nach acht Jahren das Abitur machte. Auch bei anderen Themen nehmen viele es inzwischen mit der Wahrheit nicht mehr so hundertprozentig genau. Immer wieder geistern Meldungen durch die Medien, nach denen es angeblich tausende Todesopfer durch Stickoxide gibt – sehr zum politischen Nutzen von Diesel-Gegnern. Tobias Welte, Lungenspezialist an der Medizinischen Hochschule Hannover, sagte kürzlich in der Nordwest-Zeitung, seines Wissens gebe es keine einzige belastbare Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen von Stickoxiden. https://twitter.com/morgenmagazin/status/892006052954337280 „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, schrieb Friedrich Dürrenmatt in seinem Stück „Die Physiker“. In Zeiten des Internets kann auch, was einmal gesagt oder veröffentlicht wurde, nicht mehr zurückgenommen werden. Es ist im weltweiten Netz für immer präsent. Eigentlich müsste das dazu führen, dass Informationen genauer geprüft werden, bevor man mit ihnen an die Öffentlichkeit geht. Doch das Gegenteil ist der Fall. Erst wird es gesagt, dann wird noch ein schönes Schaubild dazu gemacht, dann ist es ein Fakt. Frauen verdienen 21 Prozent weniger als Männer, schreibt die SPD auf Plakate. Das klingt auch schön plakativ, es ist allerdings schon lange nachgewiesener Unsinn. Denn bei den 21 Prozent handelt es sich um den unbereinigten Gender Pay Gap, bei dem einfach nur Bruttoeinkommen verglichen werden, egal, welche Berufe ausgeübt werden oder wie lange man arbeitet. Deshalb ist die Aussage grob irreführend. Die korrekte Zahl lautet sechs Prozent: so groß ist die Lücke zwischen Mann und Frau, wenn beide den gleichen Job ausüben. Das ist immer noch irritierend genug und über die sechs Prozent ließe sich allemal politisch diskutieren. Der SPD reicht diese Zahl aber offenbar nicht aus, sie bleibt dickhäutig bei den 21 Prozent.
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Die politische Debattenkultur ist inzwischen ein wenig verlottert. Und die Vielzahl von Daten und Informationen führt dazu, dass die nur scheinbar logischen Fakten oftmals nicht entlarvt werden. Niemals war der „Faktencheck“ nötiger als heute. Das ist auch deshalb bedenklich, weil sich dieselben Protagonisten, die mit Fakten teilweise eher hemdsärmelig umgehen und bei der Wahrheit manchmal Fünfe gerade sein lassen, über sogenannte Fake News in sozialen Netzwerken beschweren. Dabei geht es inzwischen aber nicht mehr nur um Meinungsroboter und fragwürdige Nachrichtenseiten, auch etablierte Medien müssen sich immer häufiger Fragen, ob das eigentlich stimmt, was sie da berichten. Althusmann hat das Turbo-Abi eingeführt, tausende Menschen sterben an Stickoxiden, Frauen verdienen 21 Prozent weniger – gehört das schon in die Kategorie Fake News oder sind kleine wahre Lügen, die irgendwie dazugehören? Im Kern geht es um die Glaubwürdigkeit von Politik und Medien, und es stellt sich die Frage, ob die kleinen wahren Lügen überhaupt nötig sind. Braucht es wirklich fragwürdige Zahlen, wenn es um saubere Luft und gleiche Bezahlung von Männern und Frauen geht? Gegen eine zugespitzte politische Debatte ist nun wirklich nichts einzuwenden. Dennoch sollten wir uns im Wettkampf der politischen Ideen eine zentrale Frage stellen: Wollen wir wieder mal ein wenig ehrlicher sein? Mail an den Autor dieses Kommentars   CONTRA: Der Ruf nach mehr Ehrlichkeit in der Politik ist sicher richtig. Aber noch mehr kommt es darauf an, den Gegner mit Respekt und Würde zu behandeln, meint Klaus Wallbaum. Die Wahrheit ist heilig – und wer sie missachtet, vergeht sich an der Demokratie. Unser politisches System beruht darauf, dass es für die Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen und Ziele eine gemeinsame Basis gibt, und sie muss in der Anerkennung von unverrückbaren Fakten bestehen. Allerdings ist das nicht immer ganz korrekt einzuhalten, denn in der Politik sind viele Tatsachen interpretierbar. Eine verkürzte Darstellung eines komplexen Sachverhalts kann dazu beitragen, dass bestimmte Stimmungen erzeugt und Betrachtungsweisen in eine Richtung gelenkt werden. Ein Beispiel: Die SPD sagt, sie habe in der rot-grünen Regierungszeit die „schwarze Null“ im Landeshaushalt erreicht – während die schwarz-gelben Vorgänger in ihrer Zeit einen Berg an Krediten angehäuft hätten. An Zahlen lässt sich das durchaus belegen. CDU und FDP entgegnen aber, diese Sichtweise sei stark verkürzt, weil seit 2013 die Steuereinnahmen nur so gesprudelt hätten, während es in den Jahren zuvor eine Konjunkturkrise gegeben habe. Auch dafür gibt es nachweisbare Zahlen. Ist die Aussage der SPD nun falsch, da unvollständig? Oder ist sie trotz aller Umstände im Kern richtig? Beide Antworten sind möglich. Bei den meisten politischen Streitfragen verhält es sich so, und da Wahlkämpfe Zeiten von extremen Zuspitzungen sind, hageln in diesen Wochen die verkürzten Botschaften nur so auf die Bürger ein. Die Fälle, in denen eindeutig mit widerlegbaren Tatsachenbehauptungen argumentiert wird, bleiben dagegen in der Minderheit. Man muss es wohl hinnehmen und hoffen, dass Ende Oktober, wenn alle Wahlkämpfe vorüber sind, wieder mehr Sachlichkeit in die Debatte einkehrt. Weitaus schlimmer als die Verdrehung von Fakten ist im Wahlkampf der Verstoß gegen Grundregeln des Respekts und Anstands. Verrät die Wortwahl, dass man die Würde des Gegners achtet – oder kommt eine feindselige Ausdrucksweise zum Vorschein? Zumindest die demokratischen Kräfte sollten sich nicht derart bekämpfen, dass der andere moralisch abgewertet oder verächtlich gemacht wird. Als die rot-grüne Landesregierung mehrere Gerichtsverfahren, unter anderem vor dem Staatsgerichtshof, verloren hatte, hörte man vereinzelt von CDU und FDP, in der Staatskanzlei werde „organisierter Rechtsbruch“ begangen. Das war eine Frechheit, denn vor Gericht kann man gewinnen oder verlieren – der Vorwurf vorsätzlicher Missachtung von Regeln aber geht zu weit und ist geeignet, das Ansehen des Gegners zu untergraben. Mit derartigen Äußerungen spielt man jenen in die Hände, die das politische System bekämpfen und die demokratischen Parteien als korrupt und verbrecherisch abwerten wollen.
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Eine Entgleisung der besonderen Art hat sich vor wenigen Tagen auch Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) geleistet, als er in einer Parteitagsrede die CDU in einer Form angegriffen hat, die ihresgleichen sucht. Er erinnerte an Überläufer im Landtag, die 1970 und 1976 die Mehrheitsverhältnisse dort verändert hatten. Weil sprach von einer „unseligen Tradition“ der CDU und davon, dass Mehrheitsänderungen im Landtag ohne vorherige Wahlen „Teil des christdemokratischen Erbguts“ seien. Das ist, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit. Die historischen Tatsachen widersprechen Weils Darstellung, denn 1970 hatte die CDU auf ein Misstrauensvotum während der Legislaturperiode gerade verzichtet, obwohl sie dafür vermutlich eine Mehrheit im Parlament bekommen hätte. Sie hatte damals – wie die SPD – den Weg zu Neuwahlen bereitet. Und 1976 waren es Abgeordnete  aus der SPD/FDP-Koalition, die dem CDU-Kandidaten Ernst Albrecht zum Sieg verhalfen. Die Unterstellung, die CDU habe hier im Hintergrund gewirkt, lässt sich durch nichts belegen. Wenn Weil dafür Belege hätte, wäre das eine Sensation und er müsste diese Hinweise offen nennen – doch das hat er bisher nicht getan. Zuspitzungen in der politischen Debatte sind das Salz der Suppe, sie müssen sein. Oft geht das mit einer fragwürdigen Interpretation von Fakten einher. Geschenkt – das muss man hinnehmen. Auf keinen Fall aber darf man es akzeptieren, wenn der demokratische Gegner in eine undemokratische, zwielichtige Ecke gerückt und moralisch niedergemacht werden. CDU und FDP müssen lernen, dass Rot-Grün zwar vor Gericht mehrfach verloren hat, aber nie vorsätzlich das Recht gebrochen hat. Und der Ministerpräsident muss lernen, dass es ihm am Ende nicht nützen wird, wenn er den Christdemokraten mit unhaltbaren historischen Unterstellungen den Anstand abspricht. Mail an den Autor dieses Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #155.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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