Das Schulgesetz in der geltenden Fassung ist eindeutig: 2028 sollen die bisherigen Förderschulen Lernen, die noch in einer Übergangszeit angeboten werden, endgültig auslaufen. Von dann an müssen alle Kinder in den allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden. Ist das sinnvoll, oder sollen die Eltern eine Wahlmöglichkeit haben – so, wie es die FDP in einem Volksantrag fordert? Die Rundblick-Redaktion diskutiert über dieses Thema.

Niedersachsen streitet um die Abschaffung der Förderschule Lernen – die Rundblick-Redaktion auch. Und zwar in einem Pro & Contra. | Foto: GettyImages/Zoran Mircetic

Pro: Wer die Förderschule Lernen abschafft, schränkt nicht nur die Wahlmöglichkeiten von Eltern und die Bildungschancen von Schülern ein, sondern schafft auch Frustration bei Lehrern, die gehalten und nicht aufgerieben werden sollten, meint Niklas Kleinwächter.

Als der Gedanke der Inklusion im Jahr 2008 auch die Schulen der Bundesrepublik erreicht hat, ging ich noch zur Schule. Damals hielt ich das Ganze für eine ziemlich gute Idee. In weiten Teilen sehe ich das auch heute noch so. Allerdings muss ich mir eingestehen, dass ich mit einem ziemlich distanzierten Blick auf unsere Bildungseinrichtungen schaue. Zum Umdenken bei diesem Thema bringen mich dann Gespräche mit denen, die ganz direkt damit zu tun haben: Gespräche mit den Lehrerinnen und Lehrern. Was da geschildert wird, überzeugt mich zumindest davon, dass die Förderschule Lernen auch weiterhin als Angebot vorgehalten werden sollte. Und wenn man das zu Ende denkt, ist das auch kein Argument gegen die Inklusion, sondern eines für eine gelingende Inklusion. Entscheidend sind dabei folgende Aspekte:

Die beste Schulform für jeden: Die Idee der inklusiven Bildung ist es, im Idealfall jeder Schülerin und jedem Schüler die jeweils besten Bildungschancen zu ermöglichen, ohne sie durch die Wahl einer Schulform zu behindern. Und diese Idee setzt sich inzwischen weitgehend durch – auch in der regulären Beschulung ohne Inklusionskinder. Es ist das Mindset der Lehrer, das sich geändert hat. Längst geht es nicht mehr um das eine Schema, durch das man alle Kinder im übertragenen Wortsinn durchprügeln muss. Zwischen den einzelnen Schülern, ihre Begabungen, Fähigkeiten und Schwächen sensibel zu differenzieren, gehört heute zu guter Schule einfach dazu. Die Differenzierung in der Klassengemeinschaft kommt aber an eine natürliche Grenze. Ein Lehrer kann nicht zeitgleich für 20 Schüler (in der Grundschule) Individualunterricht anbieten – auch wenn das natürlich schön wäre. Ein Schulsystem, das selbst vielfältig ist, ist deshalb eine kluge Antwort auf die Vielfalt der Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder. Eine Einheitsschule für alle wäre es nicht. Dazu gehört auch, dass Eltern für ihre Kinder die Möglichkeit haben müssen, die aus ihrer Sicht geeignetste Schulform zu wählen – auch die Förderschule Lernen. Denn für manche Kinder ist es vielleicht besser in kleineren Klassen intensiver beim Lernen begleitet zu werden. Wichtig ist hier, dass es eine Option sein muss. Wenn Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) sagt, dass sich Förderschulen per se nicht mit dem Gedanken der Inklusion in Einklang bringen lassen, wird deutlich, dass die Idee der Inklusion an dieser Stelle total ist, während der Erhalt der Förderschulen Möglichkeiten eröffnen würde. Der Elternwille zählt in Niedersachsens Schulen viel, gerade bei der Wahl der Schullaufbahn. Warum also möchte man den Eltern, die womöglich selber gute Erfahrungen mit der Förderschule Lernen gemacht haben und für ihre Kinder sicher nur das Beste wollen, hier die Wahlmöglichkeiten einschränken?

Lehrer nicht überfordern: Wer den Fachkräftemangel in unseren Schulen ernst nimmt und deshalb jede Lehrkraft so lange wie möglich im System halten möchte, sollte die täglichen Belastungen so gering wie möglich halten. Eine ganze Reihe von Lehrern, die dafür nicht ausgebildet wurden, mit inklusiver Beschulung zu überfordern und leider auch weitgehend allein zu lassen, trägt jedenfalls nicht dazu bei, dass die Fachkräfte länger und möglichst lange in Vollzeit im Schuldienst bleiben. Für den Staat ist es vielleicht billiger, die Beschulung von Inklusionskindern auf alle vorhandenen Lehrkräfte aufzuteilen. Fair ist es nicht, gut auch nicht. Zynisch ist es allerdings, Lehrer mit der inklusiven Beschulung allein zu lassen, für die sie weder ausgebildet wurden noch entsprechend bezahlt werden. Derzeit ist es so, dass den Schulen je nach Schülerzahl eine bestimmte Anzahl an Förderschullehrern zugewiesen wird. Für jede Klasse gibt es (rechnerisch) zwei Förderschul-Stunden. Am tatsächlichen Bedarf geht das dann natürlich vorbei, denn es spielt keine Rolle, wie viele Kinder mit Inklusionsbedarf im Klassenzimmer sitzen.

Notwendig wäre es aber eigentlich, dass in Klassen mit Inklusionskindern neben dem Fachlehrer auch noch ein Förderschullehrer dabei ist. Dieser sollte sich dann speziell um die Anforderungen des Inklusionskindes kümmern und beispielsweise genau abgestimmtes Lernmaterial einsetzen. Tut man das nicht, wird irgendjemand in diesem Klassenzimmer auf der Strecke bleiben: das Inklusionskind, die anderen Schüler oder – und darum geht es mir in diesem Punkt besonders – die Lehrkraft, die immer wieder an ihren eigenen Ansprüchen eines möglichst guten Unterrichts wird scheitern müssen. Selbst wenn man nun die Förderschullehrer von den noch bestehenden Förderschulen abzieht und auf die regulären Schulen verteilt, lässt sich dieser Betreuungsschlüssel aber nicht herstellen. Übrigens: Auch vielen Förderschullehrern gefällt das aktuelle Modell nicht, denn sie sind nirgends so ganz, dürfen keine Klassen mehr leiten und können auch nicht mehr das tun, was sie sich eigentlich mal vorgenommen hatten.


CONTRA: Das Recht, mit allen gemeinsam zu lernen, ist ein Menschenrecht. Das steht auf dem Spiel, wenn die Förderschule Lernen nicht endlich abgeschafft wird. In der Debatte geht es der FDP nicht um das Wohl der betroffenen Kinder. Vielmehr zielt sie auf die Stimmen von Lehrkräften und Eltern leistungsstärkerer Kinder, die wegen des Scheiterns der Inklusion frustriert sind, meint Anne Beelte-Altwig.

Schule ist nichts für Weicheier. Lehrkräfte, Eltern und Schülervertretungen klagen völlig zu Recht über einen himmelschreienden Personalmangel und eine Infrastruktur, die schon im 20. Jahrhundert überholt war. Und dann auch noch Inklusion. Als Deutschland 2006 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert hat, ist die Politik eine Verpflichtung eingegangen: ein Schulsystem zu schaffen, das nicht aussortiert, sondern allen einen sicheren, gleichberechtigten Platz und die nötige Unterstützung garantiert. Die Mühen, die das erfordert, wurden den Schulen aufgebürdet, die dafür völlig unvorbereitet waren.

Ist es deswegen eine gute Idee, zu sagen: Wenn wir es nicht hinkriegen, dann lassen wir es halt mit der Inklusion und behalten einfach die Förderschule Lernen? Nein, denn hier geht es um nichts weniger als ein Menschenrecht. Wohlgemerkt: Das Recht auf inklusive Bildung ist kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen (oder mit den „richtigen“ Behinderungen), sondern ein Recht für alle Menschen. Und es ist kein Recht der Eltern, sondern eines der Kinder. Es ist verständlich, dass sich einige Eltern für ihr Kind, das sich mit dem Lernen schwertut, eine geschützte, überschaubare Umgebung wünschen. Aber sind es die Ängste der Eltern, die sich positiv auf die Entwicklung eines jungen Menschen auswirken, oder nicht eher ihr Vertrauen und ihre Fähigkeit, den Kindern Selbstbewusstsein zu vermitteln?

Allen Beteiligten – dem Kind selbst, dessen Schulkarriere auf einer Förderschule endet, seinem sozialen Umfeld, den Mitschülerinnen und Mitschülern – ist klar: Dieses Kind wurde aussortiert. Seine Chancen, einen Abschluss zu erreichen, der irgendeinen Wert auf dem Arbeitsmarkt hat, sind minimal. Dies zeigen sogar die Zahlen der FDP, mit denen sie für den Erhalt der Förderschule Lernen Unterschriften sammelt: Nur 54 Prozent der Absolventen der Förderschule Lernen erreichen einen Hauptschulabschluss (gegenüber 88 Prozent an der Hauptschule). Wie könnte diese Erfahrung des Abgeschrieben-Seins den Kindern Selbstbewusstsein vermitteln? Wenn die FDP behauptet, Erfolgserlebnisse auf der Förderschule würden „ihre Motivation und ihren Lernwillen steigern“, ist das zynisch.



Allein die Existenz der Förderschule Lernen erzeugt Druck auf leistungsschwache Kinder an der Regelschule. Auch wenn am Ende der Elternwille über die Schulform entscheidet, sitzt der Gedanke fest in den Köpfen – und wird sicher auch mal ausgesprochen: „Dieses Kind gehört nicht hierher. Sollte man nicht doch überlegen, es auf eine Förderschule zu schicken?“

Statt das Versagen bei der Umsetzung der UN-Konvention zu kaschieren, indem man das Auslaufen der Förderschule hinauszögert, sollte Niedersachsen das als Schritt dahin sehen, Schule neu zu denken: Die wichtigste Aufgabe der Schule ist nämlich nicht, zu bewerten und zu sortieren, sondern alle auf die Anforderungen der Zukunft vorzubereiten. Lernstarke Schüler sollten nicht dazu erzogen werden, andere zu übertreffen, sondern die Teamleistung zu steigern. Um das zu erreichen, ist vieles nötig: die Unterstützung der Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams, eine solide Qualifikation der Schulbegleiter und ein ausreichendes Budget für Lernmaterial, das unterschiedlichen Bedarfen gerecht wird. Wenn die FDP die Förderschule Lernen als Wahlkampfthema entdeckt hat, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie die Schwächsten der Gesellschaft als Wähler im Blick hat. Vielmehr kann man