Die EU bezieht Gas, Kohle und Öl immer noch aus Russland – und überweist annähernd eine Milliarde Euro täglich dafür an den Lieferanten. Wissenschaftler, Politiker und einige Unternehmer haben vor wenigen Tagen in einem „Aufruf zum Handeln“ die Forderung unterstrichen, die auch der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyi an den deutschen Kanzler Olaf Scholz gerichtet hatte: Es müsse einen sofortigen Importstopp geben, damit Putin das wirtschaftliche und finanzielle Fundament für seinen Krieg entzogen wird. Scholz hält das für „unverantwortlich“. Ist ein Importstopp für russische Energie den Deutschen zumutbar? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

PRO: Allein schon der Gedanke, dass mit unseren Energieimporten aus Russland die Stabilität des Kriegsverbrechers Wladimir Putin gesichert wird, ist unerträglich. Daher muss die Politik gefordert sein, ein Konzept für ein Funktionieren der Gesellschaft ohne diese Lieferungen zu entwerfen, meint Klaus Wallbaum.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich in der ARD-Sendung „Anne Will“ interviewt wurde, wirkte er an einer Stelle sehr knapp und fast unwirsch. Er schimpfte auf „mathematische Modelle“, aus denen hervorgeht, dass sich Deutschland ein Öl- und Gasembargo leisten könne. Das sei nicht nur falsch, sondern „unverantwortlich“. Da klang der Kanzler wie sein Vor-Vorgänger, der unwillkommene Diskussionen gern mal mit einem „Basta“ zu beenden versuchte. Im Ohr hat man neben Scholz‘ apodiktischer Aussage noch die Warnungen von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der ein sofortiges Embargo ablehnte mit der Begründung, dieses werde „soziale Verwerfungen“ nach sich ziehen. Ist das wirklich so?

Man darf bei der Beurteilung nicht vergessen, dass Scholz und Habeck Politiker sind, ihr Auftreten ist – quasi per Prägung durch Amt und Partei – interessegeleitet. Scholz hatte sich ausdrücklich auf Wirtschaftskreise bezogen – und lehnte damit eine von Wissenschaftlern kurz zuvor verbreitete Stellungnahme ab, die sehr wohl von einer Beherrschbarkeit der Situation ausgeht. Auch Wirtschaftskreise haben Interessen, viel stärker als die Wissenschaft, die zumindest vom Anspruch her der Wahrheit verpflichtet ist. Was sind nun die Mahnungen und Warnungen des Kanzlers Wert? Scholz sagt, Russland könne die Deviseneinnahmen derzeit wegen der Sanktionen gar nicht richtig nutzen. Dagegen steht, dass im Zuge eines Importstopps auch die Gazprom-Bank in die Sanktionen einbezogen werden könnte und damit auch solche russische Deviseneinnahmen gedrosselt werden, die bisher ausgespart sind. Ein Ende der Energieexporte nach Europa könnte zudem die Moral in Russland erschüttern, weil irgendwann die Menschen dort erfahren würden, dass der Westen es ernst meint und die Quelle der russischen Wirtschaftskraft versiegen lässt. Die Maßnahme hat zunächst ihre sachliche Wirkung, das mit ihr verbundene Signal vermutlich noch eine viel größere, nämlich eine psychologische.
„Allein die Scheu davor, der Bevölkerung Härten zuzumuten, kann keine Leitschnur der Politik sein.“
Was ist also zu tun? Nötig ist eine faktenbasierte, gründliche und ausgewogene Beurteilung der Lage: Besteht eine realistische Chance, mit dem Stopp von Energieimporten aus Russland Putin in die Knie zu zwingen und die Beendigung seines Krieges wahrscheinlicher zu machen? Wenn man das guten Gewissens bejahen kann, dann folgt die nächste Frage: Kann die deutsche Volkswirtschaft über eine gezielte Rationierung von knapper gewordener Energie eine Krise überstehen? Für die Antwort sind einerseits verlässliche Prognosen nötig, zum anderen aber auch kluge Modelle der Verteilung. Härten wird das mit sich bringen, soviel ist klar. Es wird sicher auch Proteste gegen Beschränkungen geben. Allein die Scheu davor, der Bevölkerung Härten zuzumuten, kann aber keine Leitschnur der Politik sein – ebenso wenig wie die Angst, bei den nächsten Wahlen wegen der Beschränkungen Einbußen an Popularität erleiden zu müssen. Und wenn man den Eindruck gewinnt, dass Politiker vor allem die Positionen von Unternehmen oder Gewerkschaften nachbeten, die jeweils auf die Sicherung des bestehenden Wohlstands ausgerichtet sind, ist auch Vorsicht geboten. Das übergeordnete Ziel muss in diesen Wochen heißen: Wir müssen es schaffen, das Morden in der Ukraine schnellstmöglich zu beenden – dem sind alle verzichtbaren Bequemlichkeiten unterzuordnen.
Wie kann ein guter Plan aussehen? Wir müssen genau schauen, wie knappes Gas so zugeteilt wird, dass die Zumutungen für die Bevölkerung und für die Wirtschaft in Grenzen bleiben. Branchen, die besonders leiden, müssen vorübergehend mit Staatshilfen und einer Kurzarbeit-Regelung geschützt werden. Einschränkungen für die breite Bevölkerung dürfen kein Tabu bleiben – jedenfalls darf es nicht sein, dass es warme Wohnungen gibt, aber viele Betriebe dafür schließen müssen. Eine sorgfältige, weitblickende Planung ist erforderlich. Mit Behutsamkeit und Sparsamkeit beim Energieverbrauch kann man heute schon starten. Welcher Zeitpunkt wäre dafür günstiger als jetzt, da die Bevölkerung zu einer breiten Solidarität mit der Ukraine bereit ist? Warum kein neues Sonntagsfahrverbot? Warum kein Ende der nächtlichen Beleuchtung öffentlicher Gebäude? Natürlich wäre das auch symbolisch, es würde den Ernst der Lage unterstreichen. Aber, verdammt noch mal, die Lage ist doch tatsächlich überaus ernst. In einem unserer Nachbarländer wird ein grausamer Vernichtungskrieg geführt, jeden Tag sterben hunderte unschuldiger Menschen. Und wir selbst sind mitten in einem dadurch ausgelösten Wirtschaftskrieg. Wir sind verpflichtet zu handeln.
CONTRA: Europa muss alle Hebel in Bewegung setzen, um den mörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu stoppen. Fast alle dieser Schalter sind mit „Sanktionen“ beschriftet und viele wurden schon gezogen. Der Hebel mit der Aufschrift „völliger Importstopp für Kohle, Öl und Gas“ ist bislang allerdings nicht angetastet worden. Und das ist bislang auch gut so, denn die Schaltung dahinter ist völlig falsch verkabelt worden, meint Christian Wilhelm Link.
„Wir haben die Lage im Griff“, behauptet Chefelektriker Olaf Scholz bei „Anne Will“, während hinter ihm die Funken sprühen. Den Schaltplan für die Bewältigung eines russischen Angriffskriegs will der Bundeskanzler schon längst entworfen haben, nur zeigen kann er ihn uns nicht. Fehlt nur noch, dass Scholz wie einst US-Präsident Donald Trump irgendeinen Zettel dazu in die Kamera hält und diesen – sobald man versucht, ihm das Blatt aus den Händen zu nehmen – in den Mund steckt und aufisst.

Zum Glück hat immerhin Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck einen Plan, wenn’s auch nur der „Notfallplan Gas“ ist. Am Mittwoch rief Habeck hier die Frühwarnstufe aus, was allerdings in den meisten deutschen Privathaushalten nur zu einem Schulterzucken geführt haben dürfte. Jede noch so überdimensionierte Wohnfläche darf weiterhin auf jede beliebige Temperatur geheizt werden – und zwar bis die letzte Gasflamme erloschen ist. Sobald die Alarmstufe 3 erreicht ist, streicht die Bundesnetzagentur jedoch die Gaslieferungen für die Industrie zusammen. Und das könnte tatsächlich bald ein Thema werden, wenn kein Pipelinegas mehr aus Russland geliefert wird.
„Schon jetzt kommt Deutschland schleppender als fast alle anderen europäischen Staaten aus der Krise heraus.“
Dass ein Gasmangel der deutschen Industrie angesichts von Corona-Pandemie, Lieferengpässen und der in immer neue Höhen kletternden Inflation einen besonders harten Schlag verpassen könnte, ist offensichtlich. Schon jetzt kommt Deutschland schleppender als fast alle anderen europäischen Staaten aus der Krise heraus. Das Wirtschaftswachstum ist vergleichsweise gering, während die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas vergleichsweise groß ist. Mit einem Anteil von 31,2 Prozent ist Erdgas auch der wichtigste Energieträger für die deutsche Wirtschaft und der Ausfall wäre entsprechend schwerwiegend – in der Breite wie auch im Einzelfall.
Beim Stahlkonzern Salzgitter zum Beispiel würde es Monate dauern, die Hochöfen überhaupt herunterzufahren. Zudem besteht dabei die Chance, dass Risse in den Öfen entstehen und diese danach komplett ausfallen. Das wäre nicht nur für die Beschäftigten ein Schock, sondern auch für alle Unternehmen, die von der Salzgitter AG beliefert werden. Und welche Folgen der Ausfall eines systemrelevanten Vorproduzenten hat, konnte man ja kürzlich sehen, als aus der Ukraine keine Kabelbäume mehr für die deutsche Automobilindustrie geliefert wurden. Ähnliche Probleme wären auch in der Chemieindustrie zu erwarten, die den größten Stromverbrauch von allen hat. Außerdem wird Erdgas nicht nur als Energieträger benötigt, sondern auch um Ammoniak, Wasserstoff oder Methanol herzustellen. Davon hängt dann beispielsweise die Düngemittelproduktion ab, die nach dem Wegfall der „Kornkammer“ Ukraine besonders wichtig ist. Zudem darf man nicht vergessen, dass alle Umsatzrückgänge es den Unternehmen erschweren, in umweltfreundlichere Technologien zu investieren. Und abseits des Aggressors Wladimir Putin lauert mit dem Klimawandel ein noch größerer Schrecken auf uns.
Ob die Bundesnetzagentur, die am Ende über die Drosselung der Gaszufuhr für Unternehmen entscheidet, das alles auf dem Schirm hat, darf bezweifelt werden. Die Steuerung der innerdeutschen Energiezufuhr wäre daher besser bei einem „Nationalen Energierat“ aufgehoben, den TÜV-Nord-Chef Dirk Stenkamp am Mittwoch gefordert hat. Ein solches Expertengremium müsste dann auch mal die öffentliche Debatte darüber leiten, wer im Zweifel wann auf Energie verzichten muss und zu welchem Verzicht die Gesellschaft überhaupt bereit ist.
„Man kann nicht einfach die Pipelines auf deutschem Boden abdrehen, ohne Verbindungen in Nachbarländer zu beeinträchtigen.“
Ein wirklich koordiniertes Vorgehen gegen den Kriegsverbrecher aus dem Kreml ist leider trotz aller anderslautenden Beteuerungen des Bundeskanzlers nicht zu erkennen. Und am Ende muss das auch noch auf europäischer Ebene zusammengeführt werden. Sanktionspolitik ist nämlich EU-Aufgabe. Dafür gibt es nicht nur viele politische Gründe, beim Erdgas kommen organisatorische hinzu: Man kann nicht einfach die Pipelines auf deutschem Boden abdrehen, ohne auch die Verbindungen in Nachbarländer zu beeinträchtigen. Außerdem gibt es seit fünf Jahren eine Solidaritätspflicht in der EU: Mitgliedstaaten, die unter einer Gasversorgungskrise leiden, können auf die Unterstützung der Nachbarn zählen. Das bringt für die Staaten auch mindestens die moralische Verpflichtung mit sich, sich mit den Nachbarn abzustimmen. Und schon 2014 hatte die EU-Kommission sogenannte Gas-Stresstests durchgeführt und dabei festgestellt: Europa kann Gasversorgungsstörungen nur dann bewältigen, wenn die Mitgliedsstaaten eng zusammenarbeiten. Hinter all diesen Gründen darf sich die Bundesregierung jetzt aber nicht verstecken. Solange Russland nicht kriegsmüde wird, muss der Druck auf Putin weiter erhöht werden und ein kompletter Energie-Importstopp ist der nächste logische Schritt. Wenn man diesen trotz aller Todesopfer in der Ukraine nicht gehen will, muss man das wirklich gut begründen – und zwar viel besser als es die Bundesregierung bisher getan hat.