„Fürchtet euch nicht“, lautet die frohe Botschaft, die alljährlich am 24. Dezember in den Kirchen landauf, landab verkündet wird. Doch in diesem Jahr ist vieles anders. Statt Mut und Zuversicht macht sich Angst breit im Land: Angst vor einer Corona-Infektion, Angst vor Verlust oder Angst davor, selbst ein Treiber der Pandemie zu sein. Diese Angst hat nun auch die Kirchen erfasst.

Darf man Gläubige zum Gottesdienst laden, wenn Lockdown ist? – Foto: Viktor Kolar

„Uns erreichen einige Signale der Verunsicherung hinsichtlich der Frage, ob Gottesdienste am 24. Dezember gefeiert werden sollen angesichts des Lockdowns“, schrieb Ralph Charbonnier am Dienstagnachmittag in einer Mitteilung. Mit diesen Worten leitete der theologische Vizepräsident des Kirchenamtes der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ein Schreiben an die Kirchenvorstände der rund 1200 Gemeinden in seinem Zuständigkeitsbereich ein.  Denn dort, in den Gemeinden und Kirchenkreisen, wird derzeit noch beraten und teilweise heftig diskutiert: Darf man zu Präsenzgottesdiensten in Kirchen laden, während sich das gesamte Land zur Bekämpfung der Corona-Pandemie so streng beschränkt wie noch nie zuvor?


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Es geht dabei nicht um eine rechtliche Frage, sondern um eine ethische. Denn laut aktueller Corona-Verordnung sind Gottesdienste unter bestimmten Auflagen erlaubt. Die Teilnehmerzahl war ohnehin schon begrenzt, je nach Platzangebot in den Gotteshäusern. Vorgeschrieben wird nun zusätzlich, dass die Gemeinden ein Anmeldeverfahren vorhalten müssen, wenn eine besonders hohe Auslastung erwartet wird – wie das üblicherweise an Heiligabend der Fall ist. Außerdem müssen Besucher für die gesamte Dauer des Gottesdienstes einen Mundschutz tragen, und gesungen wird auch nicht.

Ist das bereits ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Religionsfreiheit? Der Göttinger Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig verneint das. In einem Interview mit dem Online-Nachrichtendienst „katholisch.de“ sagte er kürzlich: „Die Religionsfreiheit ist nicht grenzenlos gewährt. Zum Schutz von Grundrechten Dritter und anderen Verfassungsgütern kann sie eingeschränkt werden, sogar massiv.“ Das habe man schon an Ostern gesehen, sagte der Jurist. Während des ersten Lockdowns im April kam es zu flächendeckenden Eingriffen, religiöse Versammlungen sind damals sogar komplett verboten worden. Ostergottesdienste sind ausgefallen – Weihnachtsgottesdienste finden nun trotz sehr viel höherer Fallzahlen dennoch statt?

Es lässt sich immer schwerer vermitteln, dass wir als Kirche ein Privileg in Anspruch nehmen, das allen anderen Bevölkerungsgruppen mit gutem Grund verwehrt bleibt.

„Es lässt sich immer schwerer vermitteln, dass wir als Kirche ein Privileg in Anspruch nehmen, das allen anderen Bevölkerungsgruppen mit gutem Grund verwehrt bleibt“, schrieb gestern ein Superintendent in der Region Hannover an seine Gemeinden. Diese stehen nun vor der schwierigen Abwägung, ob es im Sinne der Seelsorge geboten ist, Gottesdienste anzubieten, oder ob dies gegenüber den Pastoren, Ehrenamtlichen und Gläubigen nicht vielmehr unverantwortlich wäre.

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Der Corona-Krisenstab der Landeskirche Hannovers hat diese Frage für sich bereits beantwortet. Am Dienstag kam das Gremium zu dem eindeutigen Ergebnis, dass „Gottesdienste gerade in dieser Situation gefeiert werden können und sollten.“ „Sie sind verantwortbar, wenn sie nach den Empfehlungen gestaltet werden. Und sie haben eine wichtige geistliche Funktion, insbesondere für Menschen, denen ein solches Format mit persönlicher Präsenz wichtig ist“, schrieb Charbonnier an die Gemeindeleitungen. Dabei appelliert die Spitze der Landeskirche an das evangelische Motto „Freiheit und Verantwortung“. Inzwischen wurde eine neue Handreichung an die Kirchengemeinden verteilt werden, die auf die jüngste Corona-Verordnung reagiert.

Am Donnerstag richtete sich der Bischofsrat noch einmal mit einem Appell an die Gemeinden. „Nach heutigem Stand möchten wir Sie ermutigen, an den geplanten Gottesdiensten und anderen Formen des Feierns zu Weihnachten festzuhalten“, heiĂźt es in dem Brief. „Wir feiern Gottesdienste ja nicht fĂĽr uns, sondern weil gerade in diesem Jahr fĂĽr viele Menschen die
Möglichkeit, die Weihnachtsbotschaft zu hören und gemeinsam zu feiern, wichtig ist. Alle, die an einem Gottesdienst teilnehmen, entscheiden das frei und eigenverantwortlich.“ Doch welches Format die Kirchengemeinden an Weihnachten anbieten wollen, bleibt ihnen selbst ĂĽberlassen. Wie in der kommenden Woche gefeiert wird, steht deshalb noch lange nicht fest und kann von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich sein.

Wissenschaftlerin widerspricht Bischof

Auch Landesbischof Ralf Meister unterstützt diesen Weg. In einer digitalen Veranstaltung der Hanns-Lilje-Stiftung sagte er am Dienstagabend: „Die Verfahren sind beschrieben und in den verfassten Kirchen erprobt. Deshalb, glaube ich, ist das auch ein Signal für jene Menschen, die sich extrem nach einer Stärkung sehnen.“ Widerspruch erfuhr der Landesbischof in der digitalen Diskussionsrunde zudem von Viola Priesemann, Physikerin am Max-Planck-Institut in Göttingen und jüngstes Mitglied der Leopoldina-Akademie, die mit ihren Stellungnahmen die Regierung berät. „Ich würde definitiv nicht mit mehreren Menschen in einen geschlossenen Raum gehen“, beteuerte Priesemann nachdrücklich.

Sie verstehe zwar das Verlangen nach Nähe und habe auch eine „wahnsinnige Covid-Müdigkeit“, erklärte sie. Doch die Wissenschaftlerin wirbt für Alternativen. Sie denke dabei an ihre jüdischen Freunde, die das Pessach-Fest im engsten Familienkreis zuhause feierten – „und das ist wunderschön“. Für Priesemann ist auch Weihnachten ein solches Fest, das man sehr gut mit der Familie zuhause in der Kleingruppe feiern könne. Das entspreche auch dem Weihnachtsbild, das sie habe und wie es auch in der Bibel geschildert werde: mit Maria, Josef und dem Jesuskind allein im Stall in Bethlehem.

Treffen Sie Menschen, die die Abstandsregeln ebenso ernst nehmen, wie Sie selbst!

Dem Landesbischof ist das jedoch zu kurz gesprungen. „Erklären Sie das denen, die extrem einsam sind“, entgegnete Meister der Physikerin Priesemann. Für ihn sei es auch eine Form der Selbstbestimmung, unter Einhaltung der Regeln zu entscheiden, wo man sich aufhält. „Sie müssen behutsam sein, wenn sie sagen, dass jeder für sich bleiben soll. Was bedeutet es denn, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Achtung vor den Alten hatte und die ihnen nun sagt: dann bleibt doch zuhause?“

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Ein Entgegenkommen bot Priesemann allerdings an: „Es ist wichtig, soziale Kontakte zu haben, absolut“, pflichtete sie Meister bei. Das Problem seien die großen Gruppen. „Gerade die Menschen, die sich mit ihren Kontakten extrem zurückhalten, haben kaum Risiko. Wenn die sich mit Familien treffen, die sich ebenso zurückhalten, ist da dann fast kein Risiko mehr.“ Die Frage sei also: Wie viele Freunde treffen die eigenen Freunde noch? „Das muss man anschauen. Das ist das Einfallstor für das Virus.“ Der Appell der Wissenschaftlerin lautet daher: „Treffen Sie Menschen, die die Abstandsregeln ebenso ernst nehmen, wie Sie selbst!“

Die Hoffnung der Wissenschaftlerin ist es nun, dass sie mit etwas mehr Abstand einmal auf dieses Weihnachten zurückblicken wird und dann sieht, dass es gelungen ist, die Corona-Fallzahlen erheblich zu senken. In den Kirchen liegt es nun an den Gemeindeleitungen, wie sie zur Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Begleiterscheinungen beitragen wollen.

Von Niklas Kleinwächter