Schon wenn man sich von Ferne diesem Ort nähert, fällt eine Besonderheit auf – etwas Neues: Zwischen der grünen Grasfläche stehen, über den ganzen Berg verteilt, seit kurzem etwa zehn weiße Informationstafeln. Das würde man normalerweise in diesem Teil des Weserberglandes nicht erwarten, und geht man noch weiter heran, so sieht man die Aufschriften auf den Tafeln: „Dokumentations- und Lernort Bückeberg“ ist dort zu lesen. Seit wenigen Tagen nun stehen diese Schilder da, und sie deuten auf ein Ereignis hin, dass mehr als 80 Jahre zurückliegt.

Foto: Klaus Wallbaum

Hier, auf dem Bückeberg in Emmerthal bei Hameln, hatte das NS-Regime in seinen Anfangsjahren regelmäßig zum Erntedankfest im Herbst ein Massenspektakel veranstaltet. Mehr als eine Million Menschen aus dem ganzen Reich wurden hierhergebracht, damit sie beim „Reichserntedankfest“ die Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler hören und ihn auch sehen und sogar feiern konnten. Seit 1933 war das ein fester Termin im Kalender der Hitler-Diktatur, 1937 fand die Feier zum letzten Mal statt, 1938 wurde sie kurz vor dem eigentlichen Beginn abgesagt. Der Zweite Weltkrieg beendete die einzigartige Propaganda-Aktion.

Nach langem Kampf: Bückeberg wird zum Dokumentationsort

Foto: Klaus Wallbaum

Das ist die eine, die historische Seite. Die andere beschreibt einen Skandal, der sich nach 1945 ereignete und lange Zeit gar nicht ins niedersächsische Bewusstsein gelangte: Als der Krieg zu Ende war und die NS-Diktatur Vergangenheit, erinnerte jahrzehntelang nicht einmal ein einfaches Hinweisschild an das, was hier einst geschehen war. Im Gegenteil, man pflanzte extra Bäume an, damit die Überreste der Tribünen überwuchert wurden. Der Geschichtslehrer und Historiker Bernhard Gelderblom, der seit Mitte der neunziger Jahre für einen Erinnerungsort an dieser Stelle kämpfte, stieß von Anfang an auf teilweise erbitterten Widerstand in der Region, vor allem in der Gemeinde Emmerthal. „2002 sprachen sich auch Vertreter des Landes dafür aus, dass wir etwas tun müssen. Aber von dem Zeitpunkt an dauerte es noch zehn Jahre, bis allein die Denkmaleigenschaft des Bückeberges bescheinigt wurde“, berichtet Gelderblom. „Starke Kräfte in Emmerthal“ hätten sich vehement gegen eine Gedenkstätte gestemmt – mit mehreren Argumenten: Man wolle doch die Vergangenheit ruhen lassen, es drohe ein Wallfahrtsort für Neonazis zu wachsen, die Verkehrsbelastung drohe zu stark zu werden. Dann hieß es, alles sei zu groß und zu teuer. 2018 und 2019 eskalierte der Konflikt noch einmal, eine angekündigte Bürgerbefragung drohte den Plan zunichte zu machen. Doch dann gelang dem damaligen Landrat Tjark Bartels und kompromissbereiten Ortspolitikern eine Verständigung – das 1,3 Millionen Euro teure Projekt wurde endgültig beschlossen, die Zuschüsse, hauptsächlich vom Bund, flossen. Seit wenigen Wochen nun ist das Vorhaben fertig. Gelderblom und Alexander Remmel, der Geschäftsführer der Dokumentationsstätte, sind zufrieden: „Es ist etwas sehr Gutes gelungen.“

Zentraler Ort der NS-Diktatur: Adolf Hitler hielt Reden in Emmerthal

Foto: Klaus Wallbaum

Zunächst drängt sich die Frage auf: Was sind denn die Gründe dafür, dass es so lange dauerte, bis an einen zentralen Ort der NS-Diktatur erinnert werden konnte? Eine Erklärung dafür hat Rudolf Welzhofer (CDU), scheidender Ortsbürgermeister von Emmerthal. Vielleicht schämen sich viele Bewohner, dass sie oder ihre Vorfahren damals diese Feiern als angenehm empfunden hatten? „Wenn ich Senioren besucht habe, war es oft der Fall, dass die Jubilarin gesagt hat: ,Ich war früher als kleines Mädchen an der Hand von Goebbels über den Berg gegangen.‘ Viele Menschen hier haben eine positive Erinnerung an diese Reichserntedankfeiern.“ Wenn hunderttausende Besucher einmal im Jahr anreisten, verhieß das für viele in Emmerthal auch ein lukratives Geschäft, sie  verkauften selbstgefertigte Holzhocker oder Getränke. Für die Landbevölkerung, die selten große Aufmerksamkeit genoss, waren diese Reichserntedankfeiern auch eine besondere Wertschätzung. Hitler kam extra zu ihnen ins provinzielle Emmerthal, die Massen waren begeistert, es herrschte ausgelassene Freude. Das NS-Regime bewies über diese Inszenierungen seine enorme Verführungskunst.

Wie das geschah, ist noch eine Besonderheit. Der Berg wurde verformt, Erde wurde aus der Mitte abgetragen und an die Ränder verfrachtet. So entstand eine Elipse, einem antiken Theater ähnlich. Wenn die Masse auf dem Berg stand, konnten die Menschen sich gegenseitig sehen und wahrnehmen. Vor allem aber konnten sie den Führer sehen, der unten auf einer erhöhten Rednertribüne stand und sprach. Anfangs wurde Hitler noch beleuchtet, seine Rede wurde in die Abendstunden verlegt – „um den Effekt der künstlichen Bestrahlung zu nutzen“, berichtet Remmel. Dann habe man aber erlebt, dass nach Ende der Rede Chaos ausbrach, da die Menschen in der Dunkelheit nicht geordnet weggehen konnten. Im Folgejahr fand Hitlers Rede dann komplett bei Tageslicht statt. Die untere Rednertribüne ist jetzt mit einer Bepflanzung markiert worden. Ganz oben auf dem Berg, wo auf einer Tribüne noch 300 Ehrengäste Platz fanden, deren Fundamente noch vorhanden sind, kennzeichnet jetzt ein stählerner Steg die Stelle. Dazwischen liegt der „Führerweg“, den Hitler einmal hoch und herunter ging, umgeben von euphorischen Anhängern. Unter der Oberfläche des Berges zwischen diesen beiden Plätzen haben Henning Haßmann, Archäologe vom Landesamt für Denkmalpflege, und seine Kollegen Unmengen an Kabeln, Verteilerkästen und sonstigen technischen Geräten gefunden – deutliche Hinweise darauf, dass Speer für seine perfekte Aufführung die besten Licht- und Tonverhältnisse schaffen wollte. Was man am Bückeberg erleben kann, ist eben ein Prototyp der modernen Propaganda im 20. Jahrhundert. Nichts wurde dem Zufall überlassen.

„Das Thema lässt den Ort immer noch nicht in Ruhe.“

Rudolf Welzhofer

Das führt nun noch einmal zu der Frage, warum die Emmerthaler sich so lange und so vehement gegen das Vorhaben gewehrt haben. Oder waren es nur einige von ihnen? Zwei einstige Bürgermeister und ein ehemaliger Gemeindedirektor lebten in der Siedlung in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bückeberg. Sie waren einflussreich und strikt gegen einen Erinnerungsort, wie er nun endlich geschaffen wurde. War ihr Hauptargument, man wolle keine Neonazis anlocken, nur vorgeschoben?

Welzhofer meint, bis heute sei die Einwohnerschaft in der Gemeinde tief gespalten. „Das ist wie in der Impf-Debatte“, meint der Ortsbürgermeister, es gebe erbitterte Auseinandersetzungen, die in manchen Familien tiefe Risse hinterließen. Nun zählte der CDU-Politiker zu jenen, die irgendwann versuchten, Brücken zwischen den Lagern zu bauen – und der damit diesen Erinnerungsort am Ende auch durchsetzte. Und wie ist die Reaktion? Neulich war Welzhofer in einer Versammlung des Realverbandes, und da ging es wieder hoch her. Die Gegner des Vorhabens meldeten sich und beschimpften ihn als „Verräter“.

„Das Thema lässt den Ort immer noch nicht in Ruhe“, lautet die leicht bittere Bilanz des scheidenden Ortsbürgermeisters. Hamelns Landrat Dirk Adomat (SPD) hingegen hofft auf ein Einsehen der Kritiker: „Vielleicht erkennen sie jetzt, dass ihre Befürchtungen, hier werde etwas völlig Unangemessenes gebaut, von Anfang an übertrieben waren.“ Derjenige, der über viele Jahre wohl am stärksten angefeindet, beschimpft und verunglimpft wurde für seinen Ruf nach Aufarbeitung, der Historiker Gelderblom, klingt nun, im Moment seines aktuellen Erfolges, nachdenklich und etwas versöhnlich: „Hoffentlich gewöhnen sich die Menschen an das, was hier entstanden ist“, sagt er. Denen, die vehement dagegen gekämpft hatten, müsse man jetzt jedenfalls Zeit geben: „Die müssen erst einmal Gelegenheit bekommen, von ihrer radikalen Haltung wieder herunter zu kommen.“