Rebecca Harms, Gründungsmitglied der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg und langjährige prominente Grünen-Politikerin aus Niedersachsen, zieht sich nach 15 Jahren im Europaparlament aus der europäischen Politik zurück. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick erklärt sie, warum einige Positionen der Grünen in der EU konträr zu ihren eigenen liegen – und was aus ihrer Sicht in der Europapolitik besser beachtet werden müsste.

„Ich sehe mich nicht stählern, sondern treu zu mir wichtigen Überzeugungen“: Die Europaabgeordnete der Grünen, Rebecca Harms – Foto: Foto: Jügen Olczyk

Rundblick: Frau Harms, Sie sind doch auf EU-Ebene erfolgreich gewesen und haben einen Namen. Warum ziehen Sie sich jetzt bei der bevorstehenden Europawahl zurück?

Harms: Alles hat seine Zeit. Ich wollte nie den richtigen Moment zum Aufhören verpassen. Und ich habe schon in Niedersachsen meine Stärke daraus gewonnen, dass ich in der eigenen Fraktion Zustimmung und Einigkeit gesucht und gefunden habe. Das ist mir unter den europäischen Grünen zuletzt nicht mehr gelungen. Die Widersprüche entwickelten sich mehr zu meiner Fraktion als zu meiner Partei.

Rundblick: Es geht um prinzipielle Fragen, oder?

Harms: Ich halte so manche grundsätzliche Kritik an der EU für falsch, übertrieben und für gefährlich. Ich denke, dass supranationale Politik im Namen von 28 Staaten immer Kompromiss ist. Wer dem Europäischen Rat vorwirft, er handle undemokratisch, schürt das Misstrauen. Der Rat ist die am besten legitimierte Institution in Brüssel. Seine Mitglieder werden in nationalen Wahlen bei meist hoher Wahlbeteiligung entschieden und sind in der Regel besser bekannt und verankert als Kandidaten für das Europaparlament. Das Europäische Parlament hat sich, weil transnationale Listen noch nicht möglich sind, sehr auf die Idee der Spitzenkandidaten versteift, um die Entscheidung über den Kommissionspräsidenten an die Wähler zu geben. Das suggeriert den Wählern, die Kommission sei eine Art EU-Regierung. Das ist falsch. Um aus der relativen Schwäche des Parlamentes rauszukommen, wollen einige den Rat, der am ehesten eine europäische Regierung ist, herabsetzen. Gern wird auch behauptet, Europa tue nicht genug für alle Bürger. Dass die EU zu den wenigen sicheren wohlhabenden Teilen der Welt gehört, ein Resultat der europäischen Zusammenarbeit, wird dabei ausgeblendet. Bis heute liegt die Politik für soziale Gerechtigkeit in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Ob das mehr vergemeinschaftet werden soll und wie, darüber wird seit langem geredet. Aber schlechte Sozialpolitik oder Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit sollten nicht Brüssel angekreidet werden.

Rundblick: Sind solche Positionen gefährlich?

Harms: Wenn der Rat oder Brüssel allgemein so schrill angegriffen werden, dann wird das gefährlich. Denn die EU funktioniert nur mit Kompromiss. Die EU ist der große Tisch, an dem immer mehr Staaten verhandeln und sich einigen. Je mehr Staaten am Tisch sitzen, desto mehr Interessen müssen unter einen Hut gebracht werden. So oft ich für das Mehrheitsprinzip eingetreten bin, so bewusst ist mir, dass das gemeinsame Verhandeln, dass der Tisch, an dem die Kleinen und die Großen der EU sitzen, die EU stark gemacht hat. Wer Kompromiss nicht kann, der wird die EU nicht weit bringen. Das Abqualifizieren von Kompromissen als undemokratisch ist Wasser auf die Mühlen von Nationalisten und Anti-Europäern.

Es muss besser gelingen, soziale und ökologische Ziele gleichzeitig zu denken – etwa bei der Verkehrspolitik.

Rundblick: Werden nationalistische und protektionistische Tendenzen bemerkbar?

Harms: Ich bin bis heute erschrocken über das, was in der Auseinandersetzung um Handelspolitik sichtbar wurde. Die Kampagnen gegen TTIP, das Handelsabkommen mit den USA, ist ein Beispiel. Begonnen hat alles mit Befürchtungen um ökologische und soziale Standards und mit Ängsten vor internationalen Handelsgerichte, die ich auch teilte. Dann aber kamen immer mehr grundsätzliche Vorbehalte gegen Handelspolitik der EU, die Zusammenarbeit mit den USA und ein gehöriges Maß an Anti-Amerikanismus dazu. Heute stimmen meine Leute gegen Verhandlungen mit Neuseeland. Ich habe mich immer für supranationale Zusammenarbeit und für europäische Handelspolitik eingesetzt. Ceta, das mit Kanada erreichte Abkommen, ist eines der besten Handelsabkommen überhaupt. Wir werden es in einigen Jahren noch kritisch überprüfen können. Wer dieses Abkommen ablehnt, schwächt die EU und ihre Allianzen. Ich halte angesichts der zerrütteten Lage in der Welt die Verstärkung unserer Beziehungen mit den Partnern und Nato-Verbündeten für unverzichtbar.

Rundblick: Was hat Sie zu der Überzeugung gelangen lassen, dass die Nato so wichtig ist?

Harms: Die Nato und die Verbesserung europäischer Verteidigungskapazität in der Nato sind wieder sehr wichtig. Die Erfahrungen in der Ukraine während der Besetzung der Krim und der furchtbare Krieg,  in den Putin die Ukraine gezwungen hat, beeinflussen mich natürlich. Ich war sehr oft an der Front im Donbass und weiß, wie dieser Krieg aussieht, was er mit den Menschen macht und dass seit 2014 keine Woche vergeht ohne Bombardierungen und Beschuss. Putin kämpft gegen die Souveränität der Ukraine und aller Staaten, die unsere Partner im Osten sind. Die Destabilisierung dieser Staaten aber auch der EU durch Einschüchterung, Aufrüstung und Propaganda, auch durch direkte Unterstützung anti-europäischer und rechter Parteien und Bewegungen hat System und wird stärker. Und Nordamerika und die Europäer sind noch dabei, sich darauf einzustellen. Die aktuelle Auseinandersetzung um die neuen russischen Atomraketen zeigt, wie wichtig die Verbesserung unserer Verteidigungsbereitschaft ist. Die europäischen Grünen haben dazu leider noch keine überzeugende Haltung gefunden. Realitätstauglich sind da allerdings Osteuropäer in unserer Fraktion.

Rundblick: Sie ziehen eine sehr kritische Bilanz…

Harms: Nicht nur, ich sehe auch viele grüne Erfolge in Europa und in der Bundesrepublik. Die Grünen treiben den Klimaschutz und die ökologische Transformation voran. Es muss noch besser gelingen, soziale und ökologische Ziele gleichzeitig zu denken – etwa bei der Wende in der Verkehrspolitik. Der Umstieg auf Bahn und Bus, auf Fahrräder und kleinere oder elektrische Autos muss gewollt werden. Der Umbau der Autoindustrie und die Veränderung der Art, wie wir mobil sind, braucht auch wieder Konsens. Atomausstieg und Energiewende, zwei große Erfolge der Grünen in Deutschland, wurden durch Dialog und Konsens möglich. Die Dekarbonisierung der Industrieländer ist das ehrgeizigste Ziel überhaupt und wird in Konfrontation und Polarisierung nicht zu machen sein.

Wir können nicht alle Probleme Afrikas in Europa lösen.

Rundblick: Sie vertreten auch eine eigene Linie in der Flüchtlingspolitik…

Harms: Angesichts der Lage der Welt ist klar, dass die EU und besonders ihre wohlhabenden Staaten noch lange vielen Menschen Schutz gewähren müssen. Da bin ich mit allen Grünen einig. Klar ist aber auch: Das ist nicht einfach. Wir können nicht alle Probleme Afrikas in Europa lösen. Die allermeisten Menschen, die heute aus ihrer Heimat fliehen oder es wollen, werden deshalb außerhalb der EU unterstützt werden müssen. Deshalb war ich immer für ein Abkommen mit der Türkei. Nötig ist eine Unterscheidung derjenigen, die politisch verfolgt werden, die Schutz vor Krieg oder Bürgerkrieg brauchen, von denjenigen, die ein besseres Leben suchen. Rechtsstaatlichkeit auch an den EU Außengrenzen, verantwortliche Steuerung, Zuverlässigkeit und Sicherheit werden von Menschen auf der Flucht gebraucht. Wenn es nicht nur in Deutschland sondern in mehr EU Ländern gelänge, das zu verankern, was während der Jamaika-Gespräche auf Bundesebene nach der vergangenen Bundestagswahl überlegt wurde, würden wir mehr Vertrauen für Flüchtlingspolitik finden. Ich wäre auch einverstanden, wenn für Deutschland Georgien oder Marokko sicheres Drittland werden, sofern wir durch rechtsstaatliche Verfahren gewährleisten, dass politisches Asyl erhält, wer es braucht. Wer den Anspruch nicht hat, muss gerade in Zeiten zunehmender globaler Flucht auch zurückgeschickt werden können.

Rundblick: Das sind Gedanken einer erfahrenen, in vielen Jahren gestählten Politikerin. Sehen die jungen Leute das auch so?

Harms: Ich sehe mich nicht stählern, sondern treu zu mir wichtigen Überzeugungen. Die Erfahrungen aber, die ich dank der Unterstützung meiner Partei in 25 Jahren sammeln konnte, haben meinen Blick auf die Welt verändert. Auch wenn ich gegen das bedingungslose Grundeinkommen und nicht nur für das Fördern, sondern auch für das Fordern bin: Ich freue mich sehr, wie gut die neue Spitze meiner Partei arbeitet. Die guten Umfragewerte sind ja nicht unverdient, vieles von Stuttgart bis Berlin hat dazu beigetragen. Es ist gut, wie behutsam und vernünftig Annalena Baerbock und Robert Habeck mit der wachsenden Unterstützung umgehen. Auch wenn jede Generation wieder von vorn anfängt, verspreche ich unseren jungen Leuten, dass ich weiter für konstruktive Reibung sorgen werde.