Es ist inzwischen mehr als zwei Jahre her, dass die Entscheidung gefallen ist. Am 28. Oktober 2020 verkündete die internationale Jury: Weder Hannover noch Hildesheim werden europäische Kulturhauptstadt 2025. Auch die an Geschichte und Kultur reichen Städte Dresden und Nürnberg erhalten den Titel nicht. Nein, mit Kulturförderung und viel Aufmerksamkeit ausgestattet wird das eher unscheinbare, höchstens negativ konnotierte sächsische Städtchen Chemnitz.

Während mancher der Unterlegenen am Verfahren zweifelte, sagte man sich an diesem Tag in Hildesheim: Wenn schon nicht wir, dann wenigstens die. Es war ein Sieg des Außenseiters, des Unwahrscheinlichen und vielleicht auch des Schmuddelkinds – und als einen solchen unwahrscheinlichen Sieger sah man sich auch im niedersächsischen Hildesheim, wähnt sich vielleicht auch deshalb auf dem unausgesprochenen zweiten Platz. Aber wie ging es dann weiter mit der Kultur in den Bewerberstädten? Was bleibt vom Geiste der europäischen Kulturhauptstadt in Hildesheim zwei Jahre später noch übrig? Zunächst bleiben ein Gefühl und eine schöne Erinnerung zurück. Hildesheims Oberbürgermeister Ingo Meyer (parteilos) bilanziert: „Es hat viel Kraft gekostet, aber auch viel Spaß gemacht. Es hat die Menschen zusammengebracht.“

Um den Sieg von Chemnitz und die Haltung Hildesheims zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, was die Kulturhauptstadt eigentlich soll. Es geht nicht so sehr darum, gemäß dem Matthäus-Effekt denen etwas zu geben, die schon viel haben. Sondern darum, denen eine Chance zu geben, die noch etwas erreichen wollen. Das war vermutlich auch der Grund, weshalb Niedersachsens Landeshauptstadt Hannover unter ganz anderen Voraussetzungen gestartet ist. Zunächst gab man sich zurückhaltend („In aller Bescheidenheit“ hieß der verworfene erste Titel der Bewerbung), um dann das Konzept noch einmal auf den Kopf zu stellen und zu sagen: Als europäische Kulturhauptstadt, die schon viel Kultur zu bieten hat, soll von Hannover im Jahr 2025 ein Impuls ausgehen an all die anderen Städte, in denen noch mehr werden kann. Schöne Idee, nur gereicht hat das nicht.

Eine Nummer kleiner dagegen lief die Bewerbung in Hildesheim ab. Man fühlte sich von Anfang an als „Underdog“, sagt Oberbürgermeister Meyer im Rundblick-Gespräch: „Wir hatten das geringste Budget, um die Bewerbung zu stemmen.“ Außerdem habe man Hildesheim einen Sieg einfach nicht zugetraut. Gezeigt habe sich das auch an den Pressereisen, die angeboten wurden. Nach Nürnberg und Dresden wollten die Journalisten gerne fahren, nach Hildesheim kam niemand. Doch offenbar hat genau diese Underdog-Haltung die Hildesheimer zusammengeschweißt. Lene Wagner, damals Leiterin des Kulturhauptstadtbüros in Hildesheim, spricht von einer „aktiven, fast schon aktivistischen Bevölkerung“. Die Idee zur Bewerbung sei aus der Stadtgesellschaft gekommen, erinnert sich Meyer. Als man 2015 das 1200. Stadt- und Bistumsjubiläum gefeiert hatte, dabei den „Tag der Niedersachsen“ ausrichten durfte, sei eine Stimmung entstanden, die ausdrückte: „Wir haben Lust auf mehr“.
Die Begeisterung für das Projekt ging in Hildesheim zudem über die Stadtgrenzen hinaus, denn die Domstadt hat sich nicht allein beworben, sondern mit dem Umland zusammen. Der Landkreis und die Umlandkommunen seien explizit nicht nachträglich hinzugeholt worden, erklärt Meyer, sondern waren von Anfang an mit dabei – ebenso das Bistum. „Das war von vornherein gemeinschaftlich. Entweder machen (nahezu) alle mit oder wir machen es gar nicht“, sagt der Oberbürgermeister. Auch die Hochschulen und die Unternehmen der Stadt wurden mit eingebunden. Und das ist es wohl auch das, was langfristig den größten Ausschlag gegeben hat und noch weit über das Aus der Bewerbung hinauswirkt: Die Wege zwischen der Kultur und dem Rest der Stadtgesellschaft sind deutlich kürzer geworden.

Aber es ist auch etwas ganz Praktisches geblieben: Die Kulturstrategie, die in Hannover Kulturentwicklungsplan heißt, ist eine der Vorgaben an alle Bewerber. Man muss aufzeigen, wo man hinwill. Und im Idealfall setzt die Bewerberstadt die Pläne dann auch ohne den Kulturhauptstadt-Titel um. In Hildesheim ist man nicht nur stolz darauf, nicht viel Geld gehabt zu haben, sondern auch darauf, dass man im Zuge der Kulturhauptstadtbewerbung seine Kulturstrategie selbst entwickelt hat. Normal sei es, meinen die Verantwortlichen, dass Agenturen mit so etwas beauftragt werden. Aber in Hildesheim hat die Kulturverwaltung das selbst in die Hand genommen. Was daraus geworden ist, dient heute als Grundlage für die Kultur-Förderpolitik der Kommune, zudem reflektiere sich die Kulturbranche selbst an diesem Konzept, erklärt Wagner.
Der wichtigste Aspekt, der darüber hinaus geblieben ist, sei die internationale Vernetzung. An zweiter Stelle komme das Kulturfestival, das alle zwei Jahre veranstaltet werden soll. Und dann gibt es noch die Kulturerlebnistage, von denen Wagner sagt, dass die sich noch weiterentwickeln müssen. Ob man dann auch im Jahr 2025 in Hildesheim noch etwas davon merkt, was ursprünglich für dieses Jahr geplant gewesen ist, bleibt zum aktuellen Zeitpunkt noch abzuwarten. Die Entscheider der Kommunalpolitik und der Kulturverwaltung wollen lieber Dinge von Dauer als das eine Riesending.
Wenn man aber ganz konkret etwas sehen will, was die Kulturhauptstadtbewerbung in Hildesheim hinterlassen hat, muss man sich vom Bahnhof aus aufmachen in Richtung Innenstadt. Dann läuft man an einer Institution vorbei, die erst vor kurzem eröffnet wurde und den Namen „Puls“ trägt. Es ist ein „Cultural Hub“, ein Ort, an dem sich die Kulturszene Hildesheims ausprobieren kann. Genutzt hat man dafür ein leerstehendes Gebäude in der Fußgängerzone, von denen es ja zunehmend mehr gibt in fast allen Städten. Das Kulturbüro der Stadt hat sich an diesem neuen Ort niedergelassen. Auch das drückt aus: die Wege sind jetzt kürzer zwischen Kultur und Kommunalverwaltung.

Und schließlich hat die doppelte Bewerbung aus Niedersachsen auch die beiden Städte, die sich auf den Weg gemacht hatten, kulturell näher zusammengebracht. Mit dem Landes-Förderprogramm Hannover-Hildesheim soll die Achse zwischen den beiden Kommunen gestärkt, Kunst im öffentlichen Raum gefördert und der Tourismus in der Region unterstützt werden. Grundlage der vielen kleinteiligen Projekte, die dadurch finanziert werden, sind die Vorhaben aus den Bewerbungsverfahren, die nun weiterentwickelt wurden, damit sie überdauern.