Rebekka Müller blickt zuversichtlich auf die bevorstehenden Wahlen. „Fünf Prozent sind eine riesige Herausforderung, aber nicht unmöglich“, sagt sie und man hört heraus, dass sie diesen Satz in den vergangenen Wochen und Monaten schon häufig hat sagen müssen. Rebekka Müller ist 32 Jahre jung, hat BWL studiert, war dann eine Zeitlang als Projektmanagerin in Europa unterwegs – und ist jetzt Vollzeit-ehrenamtliche Spitzenkandidatin von „Volt“. Am 26. September möchte sie „die einzige paneuropäische Partei“ in den deutschen Bundestag führen und setzt dabei auf Enthusiasmus und die Wechselstimmung, die sie überall im Land ausmacht. (Was es mit dem Begriff „paneuropäisch“ auf sich hat, dazu kommen wir später noch einmal.)

Foto: Niklas Kleinwächter

Doch wie stehen die Chancen wirklich, dass es Volt ins hohe Haus schafft? In den Sonntagsfragen wachse die Säule der „Sonstigen Parteien“ immer weiter an, stellt Müller fest. Für sie ist das ein Zeichen dafür, dass die Menschen keine Lust mehr haben auf die üblichen Parteien, sie sieht die Zeit für etwas Neues gekommen – und sie möchte die Regeln des Systems brechen. Ihr persönliches politisches Erweckungserlebnis hatte Müller vor etwa zwei Jahren, als sie noch als Projektmanagerin mit dem Flieger durch Europa jettete, während sich unten auf der Straße allmählich die Fridays-for-Future-Bewegung formierte. Da dämmerte ihr: Irgendetwas stimmt doch nicht mit diesem Leben, mit diesem System. Und wie bei vielen Angehörigen dieser Generation waren es auch bei ihr dann die einschneidenden politischen Systembrüche der jüngsten Geschichte: der Brexit, Trump, die AfD, ein allgemeiner „Rechtsruck“, den sie wahrzunehmen meint. Dagegen will sich Müller stellen, sie will persönlich etwas verändern und verzichtet dafür offensichtlich sogar auf einen festen Job.

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Volt war für den Politikneuling Müller genau der richtige Anknüpfungspunkt. 2017 wurde diese Formation erst gegründet und versteht sich selbst als eine Mischung aus Partei und Bewegung. Fragt man Müller nach dem, was Volt von den anderen Parteien unterscheidet, nennt sie zunächst das eine Schlagwort, das unbedingt erklärungsbedürftig ist: „paneuropäisch“. Gemeint ist damit, dass Volt in insgesamt 29 europäischen Staaten gegründet wurde und überall ein identisches Grundsatzprogramm inklusive Wertekanon beschlossen hat. Andere europäische Parteien sind im Gegensatz dazu eben nur europäische Zusammenschlüsse nationaler Parteien mit teilweise doch recht unterschiedlichen Grundsatzprogrammen. 2019 trat Volt dann in sieben Ländern zur Europawahl an, in Deutschland erzielten sie 0,7 Prozent und ein Direktmandat: Damian Boeselager aus Frankfurt sitzt seitdem für Volt im EU-Parlament und schloss sich der Fraktion Grüne/EFA an.

Volt ist erfolgreich bei Kommunalwahlen in Hessen und Nordrhein-Westfalen

Der eigentliche Erfolgskurs der Partei und Bewegung vollzog sich aber in den vergangenen Monaten in Deutschland – und zwar auf kommunaler Ebene. Wenn Rebekka Müller also zuversichtlich auf die bevorstehenden Wahlen schaut, blickt sie vor allem auf die erfolgreichen Kommunalwahlen in Hessen und Nordrhein-Westfalen zurück und setzt auf ähnliche Ergebnisse auch bei der niedersächsischen Kommunalwahl am kommenden Sonntag. Gerade in größeren Städten konnte die junge Partei einige Stimmen auf sich vereinen und Sitze in den Stadtparlamenten erringen. Stolz berichtet Müller, dass Volt sogar schon in einigen wichtigen Bündnissen und Koalitionen mitmischt, wobei die Farbenlehre offenbar konsequent durchbrochen wird: In Köln stütze Volt mit CDU und Grünen die Oberbürgermeisterin Henriette Reker, in Bonn bilde sie mit Rot-Rot-Grün zusammen eine Mehrheit, in Düsseldorf gemeinsam mit der SPD.

Rebekka Müller ist Vollzeit-ehrenamtliche Spitzenkandidatin von „Volt“. / Foto: Niklas Kleinwächter

In Frankfurt am Main haben sie sich mit den sehr starken Grünen und der FDP zusammengetan. Was bedeutet diese Entwicklung nun für Niedersachsen? Am Sonntag steht Volt nach eigenen Angaben in neun Kommunen auf dem Stimmzettel: Hannover, Braunschweig, Göttingen, Oldenburg, Osnabrück, Rotenburg, Dannenberg, Peine und Wolfsburg. In Wolfsburg gibt es zudem eine Besonderheit: Hier sitzt bereits ein Volt-Vertreter im Stadtrat, weil ein früheres CDU-Mitglied übergelaufen ist. In Braunschweig stützt Volt den von der CDU aufgestellten parteilosen OB-Kandidaten Kaspar Haller.

Woher kommt der Name Volt?

Die Partei Volt schreibt dazu auf ihrer Website: „Volt gibt die elektrische Spannung an. Die elektrische Spannung bewegt den Strom. (…) Unsere Partei muss wie Spannung sein. (…) Das Wort Volt hat uns gefallen.“ 

Bei diesen vielfältigen Koalitionsoptionen drängt sich die Frage auf: Wofür steht Volt überhaupt? Rebekka Müller lehnt für Volt die althergebrachten Kategorien wie rechts, links, liberal oder progressiv und erst recht konservativ ab. Ihre Politik sei „evidenzbasiert“, sagt die Betriebswirtin. Man wolle eine neue Politik machen, bei der zuerst geschaut werde, was „die Wissenschaft“ sagt und dann „die wirklich beste Lösung“ finden. Doch hat nicht die Corona-Pandemie mehr als deutlich gemacht, dass selbst die Wissenschaft naturgemäß nicht mit einer Stimme spricht? Dieser Ansatz macht sie jedenfalls prinzipiell für vieles offen. Vor allem auf kommunaler Ebene ließe sich schließlich recht unkompliziert eine pragmatische Politik machen, meint die Spitzenkandidatin, die selbst in Köln bei der Kommunalwahl angetreten ist. Doch auch bei Volt gibt es Tabus: „Wir haben einen Unvereinbarkeitsbeschluss“, erklärt Müller. Zusammenarbeit mit der extremen Rechten und der extremen Linken schließen sie aus – wobei mit ersterem unter anderem die AfD gemeint ist, mit letzterem aber nicht die Linkspartei, denn mit der gibt es ja bereits kommunale Kooperationen.

Nach Siegeszug: Piratenpartei verschwinden komplett aus Landesparlamenten

Mit ihrem neuen, fast schon unpolitischen Politikstil steht Volt nicht allein da in der aktuellen Parteienlandschaft. Die erste Partei dieses neuen Typs, die sich in der jüngsten bundesrepublikanischen Geschichte (nach den Grünen, natürlich) gegründet hat, war wohl die Piratenpartei. 2006 formierte sich diese neue Organisation erstmals in Berlin und begann in den folgenden Jahren einen kleinen Siegeszug durch die Parlamente. Das große Thema war die Digitalisierung – bis hinein in die innerparteilichen Abstimmungsprozesse. Bei der Europawahl 2009 konnten die Piraten zwei Sitze ergattern, fünf Jahre später dann nur noch einen, den sie 2019 aber halten konnten. 2011 erreichten sie in Berlin ihren Höhepunkt und zogen mit 15 Abgeordneten in das Abgeordnetenhaus ein. Von ihren einstigen Erfolgen und der digitalen Agenda der sogenannten „Digital Natives“ ist derweil wenig geblieben. Aus den Landesparlamenten sind die Piraten wieder komplett verschwunden. In manchen Stadtparlamenten haben sie sich jedoch mit ein, zwei Sitzen im linken Spektrum etabliert. 

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Die zweite Partei, die durch ihr Anderssein besonders auffällt, ist die Satire-Partei „Die Partei“. Das Markenzeichen der Polit-Satiriker: graue Anzüge, blaue Hemden, rote Krawatten. Diese Uniform der PARTEI-Soldaten ist schon der erste Witz auf Kosten der etablierten Politik. Mit satirischer Überspitzung versucht die Spaß-Partei seit ihrer Gründung, der Politik den Spiegel vorzuhalten und Fehlentwicklungen im politischen System aufzuzeigen. Lobbyismus, Ränkespiele, Wahlkampftheater – von ihren Fans werden sie als Avantgarde gefeiert, vom Rest eher belächelt. Der Erfolg gibt ihnen allerdings recht: Schon seit der vergangenen Kommunalwahl sitzen in gut einem Dutzend niedersächsischer Kommunalparlamente auch Vertreter der Partei, die 2004 vom früheren „Titanic“-Chefredakteur Martin Sonneborn gegründet wurde.

Satirepartei „Die Partei“ punktet auf europäischer Ebene

Und auch auf europäischer Ebene konnte die Satirepartei punkten, wo sie mit Sonneborn und Nico Semsrott nach der jüngsten Wahl zwei Abgeordnete ins Parlament entsenden konnte. Doch während Sonneborn fraktionslos im Parlament sitzt, gehört Semsrott inzwischen zur Fraktion Grüne/EFA an (genauso wie die beiden Vertreter von Volt und den Piraten also). An diesen beiden wird ein Bruch deutlich, der sich durch die gesamte Partei „Die Partei“ zieht. Dabei geht es um die Frage, ob man nun Satire oder vielleicht doch Politik machen möchte. Im Stadtrat von Hannover jedenfalls bewies in den vergangenen fünf Jahren das Ratsmitglied Juli Klippert, für ernsthafte Anträge auch an einer fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit interessiert zu sein.

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Wenn sich nach dem kommenden Sonntag in Niedersachsens Ratssälen neue Formationen, Bündnisse oder sogar Koalitionen bilden, werden wohl weder Volt noch die Piraten oder die Satirepartei „Die Partei“ den Ton angeben. Doch bei einer immer weiter zerklüftenden Parteienlandschaft können die Kleinen schnell zu Königsmachern werden, weil es den Großen an alternativen Optionen mangeln könnte. In Hannover beispielsweise ist das ohnehin labile Ampelbündnis aus SPD, Grünen und FDP erst vor kurzem aufgekündigt worden. Bei den Vertretern von Volt-Hannover kann man sich gut vorstellen, künftig etwa einem rot-grünen Bündnis gemeinsam mit den Piraten zu einer Mehrheit zu verhelfen. Bislang hat diese Rolle die FDP mit nur drei Sitzen übernommen. Unmöglich wäre es nicht, dass anstelle der FDP jemand anders diese Funktion erfüllt.

Von Niklas Kleinwächter