Die Stimmung ist aufgeräumt, anfangs aber noch nicht euphorisch. Als Tagungsleiter Ulrich Watermann den Ehrengast des Tages begrüßt, Bundeskanzler Olaf Scholz, da kommt starker, freundlicher Applaus auf. Dann wird Stephan Weil erwähnt, und auf einmal ist der Beifall noch etwas intensiver, fast ist es Jubel. So bereiten die rund 190 Delegierten der Niedersachsen-SPD dem deutschen Regierungschef einen angenehmen Empfang, dem niedersächsischen einen noch besseren.

Der Wahlkampf für die Landtagswahl, das spürt man in der „Halle 39“ in Hildesheim, ist vielleicht noch Monate weg – aber die Anwesenden üben sich schon mal in Ausgelassenheit. Das fällt indes nicht immer leicht. Denn die Atmosphäre in der abgedunkelten, klimaanlagengekühlten alten Werkshalle, in der die Teilnehmer mit gehörigem Abstand zueinander sitzen, ist zu sachlich und nüchtern für Euphorie. Und die halbstündige Rede des Kanzlers hebt dann auch nicht die Raumtemperatur.

Olaf Scholz doziert über den Ukraine-Krieg und Waffenlieferungen, über die Zeitenwende in der Energieversorgung und die kommende Unabhängigkeit von Russland, er redet über die Inflation und darüber, dass die Preissteigerung für viele Menschen eine ungewöhnlich starke Belastung ist. Braver Beifall begleitet seine Rede, aber erst als Scholz ziemlich zum Schluss den Wahlslogan der SPD zitiert und sagt: „Niedersachsen ist in guten Händen!“, brandet stärkerer Applaus auf. Dann endet die Kanzlerrede bald, und die Delegierten erheben sich von ihren Plätzen und klatschen.
Die nächste Ansprache hält Stephan Weil, und von Anfang an gibt sich der Ministerpräsident kämpferisch und schwungvoll. Der gewünschte Effekt bleibt nicht aus, die Stimmung wird geladener. Zunächst lobt er überschwänglich den Bundeskanzler, der aus Niedersachsen „ganz große Unterstützung“ bekomme. „Stellt Euch einen Moment lang vor, Friedrich Merz wäre Kanzler und Toni Hofreiter wäre Verteidigungsminister.“ Dann befürwortet Weil Waffenlieferungen an die Ukraine und betont: „Wir stehen auf der Seite der Ukraine ohne Wenn und Aber!“ Weil setzt noch etwas hinzu: „Die Grundlage unserer Friedenspolitik war immer die Unverletzlichkeit der Grenzen. Es kann keinen Frieden geben, wenn nicht die Unverletzlichkeit der Grenzen garantiert ist. Das ist das Fundament unserer Politik gewesen und wer dieses Fundament angreift, der muss auch damit rechnen, dass der Frieden mit Waffen verteidigt werden muss.“ An dieser Stelle indes bleibt der Beifall spürbar mager.

Weil knüpft Selbstkritik an und sagt, die SPD und auch er hätten „zu spät die Aggressivität Putins realisiert“. Aber die „Doppelmoral der anderen“, die nicht eigene Versäumnisse benennen und aufarbeiten, sei „schwer erträglich“. Dann fügt er noch hinzu, die CDU habe „jahrelang den Verteidigungsminister gestellt“ und „die Bundeswehr heruntergewirtschaftet“. Dies habe „eine niedersächsische Komponente“, sagt er noch, erwähnt dann aber den Namen Ursula von der Leyen nicht. Jeder im Saal weiß aber, dass er sie gemeint hat.
Was folgt, ist dann ein bewährtes, in diesem Fall wirkungsvolles Muster: Der Ministerpräsident verteilt Lob – und spornt damit die Zuhörer zu Beifall an für „den bärenstarken Innenminister Boris Pistorius“, Olaf Lies als „die Säule unserer Arbeit“, Daniela Behrens als „Shootingstar der Landespolitik“ und Birgit Honé als „Anwältin der kleinen Gemeinden“. Kultusminister Grant Hendrik Tonne habe in der Pandemie so viele Briefe an die Schulen geschrieben, dass „jeder Schüler ihn kennt“. „Ich werde in den Schulen oft gefragt, ob mir Herr Tonne bekannt ist“, sagt Weil. Das kommt ebenso gut an wie die Reizbegriffe „Landeswohnungsbaugesellschaft“, „Mindestlohn“ und „A13 für alle Lehrer“.
Kaum sind diese Worte ausgesprochen, kommt der gewünschte Reflex der Zuhörer. Bemerkenswert, weil charakteristisch für Weils Stil, sind auch zwei Botschaften ziemlich zum Schluss seiner Rede: Johanne Modder habe zehn Jahre lang die SPD-Fraktion geführt und dabei „intern oft Klartext“ gesprochen, nach außen hin aber „nicht einen Millimeter Distanz erkennen lassen“. Als Weil dann auf die Motivation im Wahlkampf angesichts der guten Umfrageergebnisse angesprochen wird, meint er knapp und ironisch: „Wenn jemand meint, sich jetzt nicht mehr anstrengen zu müssen, da der Drops ja schon gelutscht sei, dann biete ich ihm ein intensives persönliches Gespräch an“.

Der Beifall ist nach Weils Rede dann noch mal deutlich stärker, als er nach der Ansprache des Kanzlers gewesen war. Die SPD teilt danach die Wahl der Landesliste in zwei Teile auf – zunächst wird der Spitzenkandidat gewählt, und von 190 Stimmen sprechen sich 188 für Weil aus, zwei waren ungültig. Das wird als 100-prozentige Zustimmung gewertet. Die restlichen 99 Namen auf der Liste werden dann als Blockabstimmung gewählt. Daniela Behrens, Olaf Lies, Silke Lesemann, Boris Pistorius, Immacolata Glosemeyer und Grant Hendrik Tonne stehen auf den Spitzenpositionen.
Dass einige Abgeordnete, die sich in den vergangenen Jahren im Parlament stark engagiert hatten, keinen Platz im vorderen Teil der Liste gefunden haben, wird in der Versammlung nicht erneut thematisiert. Bei der anschließenden Abstimmung bekommen alle Bewerber satte Mehrheiten zwischen 177 und 183 Stimmen. Nur drei Kandidaten stechen positiv heraus – Daniela Behrens auf Rang zwei mit 185 Stimmen, Olaf Lies auf Rang drei mit 184 Stimmen und Julius Schneider aus Braunschweig auf Listenplatz 83 mit 184 Stimmen.

Am zweiten Tag des SPD-Wochenendes in Hildesheim steht das Wahlprogramm im Mittelpunkt – und wie in der SPD üblich wird engagiert über Details diskutiert. Es geht beispielsweise um die Frage, ob angehende Erzieher auch während der Ausbildung eine Vergütung bekommen sollen oder ob der Klimaschutz noch einmal erheblich verstärkt werden soll. Mitten in der Antragsdebatte brennt noch mal eine heftige Diskussion auf über die Asylpolitik. Die Jungsozialisten kritisieren die bisherige Vorgehensweise, wollen die Aufenthaltsmöglichkeiten für abgelehnte Asylbewerber erleichtern und Abschiebungen ganz unterbinden. Das SPD-Urgestein Ulrich Watermann tritt nach vorn und protestiert: „Warum wertet Ihr unsere Arbeit in der Landesregierung ab?“, fragt er.
Auch Stephan Weil sieht sich gefordert, einzuschreiten: „Hier darf nicht der Eindruck entstehen, als wenn sich der fortschrittlichste Innenminister, Boris Pistorius, für seine Integrationspolitik rechtfertigen muss.“ Dass Abschiebungen ganz unterbleiben sollten, sei „nicht meine Position“. Dann fügt Weil hinzu: „Ich vermag nicht einzusehen, warum Kapitalverbrecher und gewerbsmäßige Drogendealer in Deutschland bleiben müssen.“ Daher rufe er dazu auf, die Forderung der Parteijugend nicht zu unterstützen. Die Jusos nutzen die Parteitagsbühne und widersprechen dem Regierungschef noch mal – aber am Ende unterliegen sie mit ihrem Antrag deutlich. Aber so hat der Parteitag immerhin noch einmal leidenschaftlich gestritten.
