Niedersachsen bekommt noch mehr Stromautobahnen als gedacht. Im neuen Netzentwicklungsplan gelangen die deutschen Übertragungsnetzbetreiber zu dem Schluss, dass fünf weitere Gleichstromtrassen her müssen. Vier davon sollen von Norden nach Süden führen, eine von Westen nach Osten – und fast alle werden sie auch durch Niedersachsen verlaufen. „Wir werden bei vier von fünf Trassen beteiligt sein“, sagt Tim Meyerjürgens, der beim Netzbetreiber Tennet für das operative Geschäft zuständig ist. Schon jetzt schultert das Unternehmen die Hälfte des Netzausbaus in Deutschland, weil es für Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie große Teile Hessens und Bayerns zuständig ist. Rund acht Milliarden Euro wird Tennet allein in diesem Jahr investieren, um unter anderem den Südlink und den Südostlink voranzutreiben.

Minister Christian Meyer macht seinen Antrittsbesuch bei Tim Meyerjürgens, Chief Operating Officer (COO) des Stromnetzbetreibers Tennet. | Foto: Link

„Es führt kein Weg daran vorbei, weitere Stromautobahnen zu bauen. Am Ende ist der Netzausbau das Rückgrat der Energiewende“, betont der Tennet-Manager. Der Ausbau der Stromnetze müsse mit dem steigenden Energiebedarf Schritt halten, was derzeit eher mehr schlecht als recht funktioniere. „Der Engpass liegt weiterhin bei den Genehmigungen“, sagt Meyerjürgens. Damit die Bundesrepublik bis zum Jahr 2045 klimaneutral wird, müssten die meisten Ausbaumaßnahmen schon bis 2037 umgesetzt werden. Mit dem Schneckentempo wie beim Südlink, bei dem es bis zum Baustart gut 15 Jahre dauerte, sei das nicht zu machen. „Bei den Genehmigungen müssen wir auf drei bis vier Jahre runter“, fordert Meyerjürgens.

Wie man Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigen kann, erörterte Meyerjürgens gestern mit Umweltminister Christian Meyer. Bei seinem Antrittsbesuch bei Tennet in Lehrte (Region Hannover) verspricht der Grünen-Politiker für den Netzausbau mehr Tempo. Bei den Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren sollen die Behörden parallel arbeiten, Umweltprüfungen sollen schneller und einfacher ablaufen. Große Hoffnungen setzt Meyer in die EU-Notfallverordnung. „Sie wird neben dem Bau von Windrädern auch den Netzausbau beschleunigen“, ist sich der Umweltminister sicher. Bevor die Länder und Kommunen dieses Instrument nutzen können, müsse der Bund allerdings noch einige Dinge klarstellen.

Der Netzausbau geht voran. Auch bei Tennet in Lehrte wird gebaut. | Foto: Link

Überhaupt wünscht sich Meyer von der Politik mehr Klarheit und mehr Rückendeckung für den Netzausbau. „Irgendwann muss man sagen, ob es links oder rechts rum geht. Denn irgendwo muss die Trasse liegen und das müssen wir künftig schneller entscheiden“, sagt der Umweltminister mit Blick auf die lange Diskussion über den Verlauf der Südlink-Leitung durch die Region Hannover. „Wir brauchen die politische Unterstützung auf allen Ebenen, um deutlich zu machen, dass der Netzausbau gewollt ist“, bestätigt auch Meyerjürgens.



Bei der Festlegung der Korridore für die vier neuen Stromautobahnen durch Niedersachsen erwartet der Tennet-COO aber weniger Gegenwind als bisher. Das Bewusstsein und das Verständnis für den Netzausbau seien gewachsen, sagen Meyer und Meyerjürgens übereinstimmend. Trotzdem betonen sie, wie wichtig der Dialog mit den Bürgern ist. „Ein örtlicher Trassenkonsens ist immer noch die beste Beschleunigungsmöglichkeit“, meint der Umweltminister. Aus Sicht des Netzbetreibers sind allerdings Vereinfachungen im Genehmigungsverfahren von Schwerlasttransporten ebenso wichtig. „Wir haben da bisher ein zweistufiges Genehmigungsverfahren und müssen zu einer Lösung kommen, die schneller ist“, sagt Meyerjürgens.

Im Zwischenlager in Zeven (Kreis Rotenburg/Wümme) sind vergangene Woche die ersten Gleichstrom-Erdkabel für Südlink eingetroffen. Sie werden mit Schwerlasttransportern geliefert. | Foto: Tennet

Der sogenannte „Redispatch“ und die Abriegelung von Windkraftanlagen sind ebenfalls Thema beim Ministerbesuch. „Überall dort, wo wir neue Leitungen legen, verringern sich die Abschaltungen“, sagt Meyerjürgens. Das habe sich jüngst wieder bei der Inbetriebnahme des vierten Abschnitts der Westküstenleitung in Schleswig-Holstein bestätigt, die als „Hauptschlagader der Energiewende“ des Bundeslandes gilt. In Niedersachsen werde sich die Zahl der Abschaltungen durch den Weiterbau der Hochspannungsleitung von Wahle (Kreis Peine) über Lamspringe und Hardegsen ins osthessische Mecklar weiter verringern. Auch die neue Stromtrasse von Ganderkesee (Kreis Oldenburg) nach St. Hülfe (Kreis Diepholz) stehe kurz vor der Inbetriebnahme. Und für den Südlink werde in diesem Jahr ein fünf Kilometer langer Elbtunnel gebuddelt, bevor es 2024 mit dem Leitungsbau richtig losgeht.

Für den Südlink soll unter der Elbe ein Tunnel bei Freiburg angelegt werden. | Quelle: Tennet

Laut Meyerjürgens wird auch das Thema Wasserstoff eine wichtige Rolle dabei spielen, Überlastungen im Stromnetz zu verhindern. Für den Tennet-COO ist klar, dass zumindest die großen Wasserstoff-Elektrolyseure an der Küste gebaut werden müssen, um die Offshore-Windenergie effizient zu nutzen. „Wenn man es allein der Industrie überlässt, könnte der Netzausbau ansonsten noch aufwendiger werden“, warnt der studierte Elektrotechniker. Für Umweltminister Meyer ist es wichtig, dass der Ausbau der Wasserstoff-Pipelines und des Stromnetzes zusammen gedacht wird. „Das Ziel ist ein sicheres Energiesystem“, betont er.

Nehmen die Westküstenleitung in Betrieb (von rechts): Robert Habeck, Tim Meyerjürgens, Tobias Goldschmidt und Matthias Boxberge (SH Netz AG). | Foto: Tennet

Darüber, wie man die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen kann, werden Tennet und das Umweltministerium auch in den nächsten Monaten im Gespräch bleiben. Der Übertragungsnetzbetreiber gehört innerhalb der Task-Force „Energiewende“ der Arbeitsgruppe „Netzausbau“ an. „Der gesellschaftliche Kraftakt der Energiewende lässt sich nur im Dialogprozess mit verschiedenen Stakeholdern meistern“, betont Meyer. Der Grünen-Politiker trifft sich diese Woche aber noch mit einer anderen Expertenrunde: In Merseburg findet am 29. und 30. März die Energieministerkonferenz statt. Bei der gemeinsamen Tagung der 16 Landesminister, bei der auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu Gast sein wird, sollen die Sicherheit und die Bezahlbarkeit der Energieversorgung im Fokus stehen.

Sachsen-Anhalt schlägt „grünen Industriestrompreis“ vor

Das Vorsitzland Sachsen-Anhalt bringt dazu zwei Anträge ein: Energieminister Prof. Armin Willingmann (SPD) will die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß absenken und einen europaweiten „grünen Industriestrompreis“ einführen. „Unternehmen, die Strom aus Erneuerbaren Energien beziehen, sollen dafür einen günstigeren Preis zahlen. Es geht darum, den Industriestandort Europa wettbewerbsfähig und zugleich nachhaltig zu gestalten“, erläutert Willingmann seinen Vorstoß.

Sind in vielen Punkten einer Meinung: Umweltminister Christian Meyer und Tennet-COO Tim Meyerjürgens. | Foto: Link

Der niedersächsische Energieminister will mit seinen Kollegen aber auch über eine faire Lastenverteilung beim Netzausbau sprechen. „Wir sind schon jetzt diejenigen, die am meisten Netzausbau machen. Wir haben die Belastung, aber wir haben nichts davon“, ärgert sich Meyer und fordert mehr Gerechtigkeit bei den Kosten. „Warum müssen die Verbraucher in Niedersachsen über ihre Netzentgelte den Netzausbau zahlen?“, fragt sich der Holzmindener und möchte bei der Ausgestaltung der regionalen Netzentgelte nachbessern, nachdem die Entgelte für die Übertragungsnetze bereits bundesweit vereinheitlicht wurden. Um die Akzeptanz für den Netzausbau zu erhöhen, fordert er wirtschaftliche Anreize für die betroffenen Regionen. „Wir müssen die gesamte Strompreisgestaltung nochmal anfassen“, sagt Meyer.

Meyer will Merit-Order-Prinzip abschaffen

Die Abschaffung des Merit-Order-Prinzips, nach dem sich die Strompreise am teuersten Kraftwerk orientieren, steht für den 47-Jährigen dabei weit oben auf der Liste. „Dass selbst Ökostromanbieter die Preise verdoppelt haben, das versteht keiner“, sagt Meyer. Einer Aufteilung Deutschlands in mehrere Stromhandelszonen, wie sie etwa der schleswig-holsteinische Energieminister Tobias Goldschmidt (Grüne) fordert, steht der niedersächsische Umweltminister derzeit sehr verhalten gegenüber. Das könnte sich aber noch ändern. Im Streit mit den süddeutschen Bundesländern um faire Strompreise will Meyer den Schulterschluss mit seinen Amts- und Parteikollegen aus Kiel sowie den anderen Nordländern suchen. Eine klare Absage erteilt Meyer der vorgeschlagenen Stromhandelszonen-Reform nicht.



Hoffnung auf Stromnetz-Übernahme

Die Überlegungen der niederländischen und deutschen Regierung zur Übernahme des deutschen Tennet-Stromnetzes durch die Bundesrepublik befürwortete Meyer gestern ausdrücklich. „Wichtig ist der Erhalt der Arbeitsplätze bei einer möglichen Übernahme. Grundsätzlich ermöglicht die öffentliche Hand aber mehr Investitionen und Verantwortung für die Energiewende“, sagte der Umweltminister. Schließlich erfordere die Energiewende mehrstellige Milliardeninvestitionen in die Netze. Im Netzentwicklungsplan beziffern die Übertragungsnetzbetreiber die Investitionskosten für die neuen Stromtrassen mit einer Gesamtlänge von 21.730 Kilometern auf insgesamt 198 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2045 rechnen sie sogar mit knapp 240 Milliarden Euro. Knapp die Hälfte der Kosten entfällt auf die neu in den Netzentwicklungsplan aufgenommenen Projekte.

Quelle: Francis McLloyd, CC BY-SA 3.0