Es sieht schon sehr chic und modern aus in der Lounge des „Me And All“-Hotels am hannoverschen Aegidientorplatz. An Kirche erinnert hier wenig, außer vielleicht das E-Piano vor der unverputzten Ziegelsteinwand, auf dem zu Beginn das Luther-Lied „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ gespielt wird. Der Ort ist ganz bewusst gewählt für diese digitale Auftaktveranstaltung, ebenso wie der Tag, der 1. November – in unmittelbarer Nähe zum für die Protestanten so wichtigen Reformationstag. An diesem Tag will die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover nämlich den Startschuss geben für einen außergewöhnlichen Beteiligungsprozess, an dessen Ende irgendwann die „Kirche von morgen“ stehen soll.

In der Lounge des „Me And All“-Hotels will die Landeskirche Hannovers in die Zukunft starten. | Foto: Screenshot/Kleinwächter

Wie so häufig bei der Kirche wird dafür viel mit Symbolik gearbeitet. Der andere Ort, die anderen Menschen (etwa der Rapper Spax) und sogar die Krankenwagen, die an den Hotelfenstern vorbei zum nahegelegenen Henriettenstift rasen, sollen etwas ausdrücken: „Was wäre ein guter Ort, wo sich Kirche und Nicht-Kirche begegnen können?“, fragt das Moderatoren-Duo, bestehend aus Annette Behnken und Roger Cericius, und erklärt sogleich, dass „die Bewegung von draußen nach Innen übertragen“ werden soll.

Kirche will „Räume des Kontrollverlustes“ zulassen

Die Botschaft ist klar: Hier soll sich jetzt etwas in Bewegung setzen. Die Kirche will weg von ihrem verstaubten Image, von Mitglieder-, Glaubwürdigkeits- und Sinnkrise, und hin zu etwas Neuem. Aber wie soll das gelingen? Das Verfahren, das sich die Landeskirche für ihren sogenannten „Zukunftsprozess“ ausgesucht hat, erinnert sehr an die Welt der Start-Ups. Man möchte „Räume des Kontrollverlustes und Nichtwissens“ zulassen, Scheitern solle als Teil des Prozesses verstanden werden. Die Kirche stehe vor einer „Transformation“, sagen sie. Und sogar Landesbischof Ralf Meister fordert dazu auf, alles, was bislang zur Kirche dazugehört hat, einmal in Frage zu stellen. „Fangt mal ganz neu an“, appelliert er in seiner Videobotschaft an die rund 250 Zuschauer im Youtube-Livestream.

Den Zukunftssprech der Kreativwirtschaft laden die beiden Gäste der digitalen Talkrunde, die „Kommunikationsdesignerin“ Eva Jung und der „Zukunftscoach“ Serge Enns, derweil im Gespräch mit Synodenpräsident Matthias Kannengießer pseudotheologisch auf. „God is an Artist“, Gott ist ein Künstler, proklamiert Jung und erläutert ihre These sogleich. So werde immer gepredigt, dass Gott gerecht, wohlwollend und gütig sei. „Aber Gott ist zuerst kreativ tätig geworden“, sagt sie und meint damit im eigentlichen Wortsinn: schöpferisch. Für die meisten Menschen sei das inzwischen so selbstverständlich geworden, dass jeden Morgen ein neuer und unverwechselbarer Tag erschaffen werde, dass sie es gar nicht mehr wahrnähmen.

Das Moderatoren-Duo Roger Cericius (v.l.) und Annette Behnken mit den Zukunftsexperten Serge Enns und Eva Jung sowie Synodenpräsident Matthias Kannengießer. | Foto: Screenshot/Kleinwächter

Der Perspektivwechsel hin zum kreativen Schöpfergott würde aus ihrer Sicht aber einiges verändern: „Was wir unlogisch oder ungerecht finden, wird dadurch nicht logischer, aber okayer.“ Jung ist deshalb der Auffassung, dass aus diesem Grund die Tradition der Kirche eigentlich die Veränderung sein müsste. Dass es aber kirchliche Tradition sei, alles immer gleich zu machen, findet die Kommunikationsdesignerin „schräg“. Serge Enns treibt die Theologisierung des Erneuerungsgedankens noch weiter. „Jedes Start-Up ist ein Himmelreich auf Erden“, sagt er und postuliert, die Vorfreude sei doch die schönste Freude. Das Problem sei allerdings, dass man den Schmerz aushalten müsse, wenn man Gewohnheiten aufgibt. Um der Vorfreude ein Ziel zu geben, brauche es deshalb Visionen und gute Beispiele aus der Praxis, meint Jung und fordert zum Kampf gegen die innergemeindlichen „Ja-Abers“ auf.

Aus guten Ideen soll Praxis werden

Die positiven Bilder und die Allianz gegen die Feinde der Veränderung soll nun der „Zukunftsprozess“ bringen. Die Online-Veranstaltung an jenem Dienstag nach dem Reformationstag ist auch der Startschuss für die Online-Beteiligungsplattform, die unter zukunftsprozess.de zu finden ist. Christopher Lambrecht aus dem sechsköpfigen Zukunftsprozess-Team erklärt zunächst die digitale Pinnwand, die man auf der Plattform findet und auf der sich bereits manche Kirchenmitglieder einfach „unkonkret Luft verschafft“ hätten.


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Andere werden dort aber auch konkreter, indem sie erfolgreiche Praxisbeispiele für das notiert haben, was sie selbst als moderne Kirche verstehen: eine leichtere Tauf-Anmeldung, Regenbogen-Gottesdienste oder eine mobile Küche in der Kirche. Als Vorbild für das internetbasierte Beteiligungsverfahren diene Thailand, erläutert Johanna Huke, die ebenfalls zum Zukunftsprozess-Team gehört. Denn in Taiwan gebe es die erste Ministerin für digitale Demokratie, deren Aufgabe es sei, „aus Anregungen mit Qualität schließlich Regierungshandeln zu machen“.

Im Falle der Landeskirche geht es derweil nicht um Regierungshandeln, aber manchmal doch um etwas Ähnliches, nämlich kirchenpolitische Beschlüsse. Dass aus den Ideen am Ende mehr wird, ist auch die Aufgabe des Zukunftsteams, das beim Landeskirchenamt angegliedert ist. So werden gute Ansätze, die von anderen Nutzern auch mit Herzchen als solche ausgewählt werden, beispielsweise an Arbeitsbereiche des Kirchenamtes oder der Landessynode weitergeleitet. Oder es wird ein „Werkraum“ eröffnet; neben der digitalen Pinnwand, die auf der Website unter dem Titel „Inspiration“ geführt wird, ist das der zweite Bereich der Beteiligungsplattform. Im Werkraum können sich dann angemeldete Nutzer vernetzen und an einer Idee (auch am Projektteam vorbei) gemeinsam weiterarbeiten.

Christopher Lambrecht (r.) und Johanna Huke vom Zukunftsprozess-Team erläutern die Funktionen der Beteiligungsplattform. | Foto: Screenshot/Kleinwächter

Der dritte Bereich der Plattform trägt den Titel „konKreationen“, wobei bewusst das zweite „k“ großgeschrieben wird. In dieser Sektion wird das Projektteam in besonderer Weise tätig, denn es erarbeitet gewissermaßen einen Pfad, wie aus einer feinen Idee irgendwann Realität werden könnte. „Wir schauen rückwärts, wie der Prozess gestaltet werden muss“, erläutert Lambrecht. Wenn am Ende etwa ein Beschluss der Landessynode steht, zeigt das Team auf, wie man den Pfad in Phasen einteilt und welche Schritte bis dahin gegangen werden müssen. „So können wir jede Form von Komplexität gestalten“, sagt er.


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Wann aber ist ein Prozess, der so wabernd ist, ein Erfolg? Kritiker befürchten, dass das Verfahren vor allem eines produzieren könnte, nämlich Frust. Ohne klares Ziel, ohne Rahmen und ohne richtige Aufgabenstellung kann jeder machen, was er will. Aber nicht alles kann auch etwas werden – und das kann Enttäuschung hervorrufen. Landesbischof Meister sagt: „Der Prozess ist nur so gut wie die Beteiligung.“

Und auch für Synodenpräsident Kannengießer bemisst sich der Erfolg zuallererst an der Zahl der Menschen, die sich einbringen. Er möchte, dass die guten Ideen nicht nur in den Köpfen schlummern, sondern auf den Tisch kommen und am Ende ein Potpourri entsteht, das so bunt ist wie das Corporate Design des Zukunftsprozesses, das aussieht wie ein vielfarbiges Tuch mit rosa, gelben, grünen, blauen und violetten Bahnen. „Dann schauen wir, welche sich realisieren lassen und welche noch nicht, welche wir zurückstellen müssen“, sagt der Synodenpräsident.



An dieser Definition knüpft auch die Kommunikationsdesignerin Jung an und denkt sie weiter. „Es müssen viele zu Wort kommen. Und dann geht es um den Umgang mit den Ideen, die noch nicht oder sogar nie umgesetzt werden.“ Was man brauche, sei also ein Qualitätsmanagement, das aber niemanden verärgert oder abhängt. Ihr Kollege Serge Enns empfiehlt deshalb, schnell ins „Probehandeln“ zu kommen. Außerdem gehe es ihm darum, nicht nur die Menschen zu befragen, die sich ohnehin immer in der Kirche mit ihren Meinungen und Ideen einbringen – sondern alle anderen auch.

Ist die Kirche mit ihrer Kommunikation inklusiv genug? Erreicht die Bewegung, die an jenem Abend von der vielbefahrenen Straße in die Hotel-Lounge gelenkt wird, in den nächsten Monaten auch die über zwei Millionen Mitglieder der Landeskirche in den mehr als 1200 Kirchengemeinden? Das wird sich zeigen. Und ein Ende kann die Veränderungen doch ohnehin nie haben, wie schon Martin Luther wusste, den die Theologin und Moderatorin Annette Behnken zu Beginn der Veranstaltung zitiert mit: „Das christliche Leben ist nicht Sein, sondern Werden.“