Bärbel Miemietz hat gut gefüllte Tage, obwohl sie bereits seit über einem Jahr im Ruhestand ist. Dennoch steht die frühere Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Hochschule Hannover morgens früh auf, geht aus dem Haus und hat häufig einen vollen Acht-Stunden-Arbeitstag. Dann fotografiert sie, recherchiert, dokumentiert und veröffentlicht. Eine Journalistin ist sie nicht, aber sie arbeitet mit daran, Wissen zu bewahren und zu verbreiten – und zwar kostenlos. Seit ihrem Ausscheiden aus dem normalen Berufsleben ist Bärbel Miemietz nämlich Teil der Wikipedia-Redaktion Hannover.

Foto: Chinnapong / Getty Images

Es war letztlich ein glücklicher Zufall, der sie zu der allseits bekannten Online-Enzyklopädie gebracht hat, die in diesem Jahr ihr zwanzigjähriges Bestehen feiert. „Ich schreibe einfach gern“, erzählt sie im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick, während sie auf ihrem heimischen Sofa sitzt und in die Kamera ihres Laptops lächelt. „Anfang des vergangenen Jahres habe ich nach einer neuen Beschäftigung gesucht und Wikipedia hat zum 8. März eine Aktion speziell für Frauen angeboten.“ Das Netzwerk arbeitet derzeit daran, die Anzahl der Artikel über bemerkenswerte Frauen deutlich zu erhöhen – und vielleicht versuchen es gleichzeitig auch, durch mehr Frauen im Team den Nerd-Faktor der Wikipedia-Gemeinschaft etwas zu verringern.

Das ist mein kleiner Beitrag. Ich will damit die Erinnerung wachhalten und auch signalisieren, dass es dafür in Deutschland ein Bewusstsein gibt.

Seitdem ist Bärbel Miemietz jedenfalls dabeigeblieben und die ehrenamtliche Arbeit an der Wikipedia ist für sie regelrecht zur Sucht geworden. „Es gibt Tage, da arbeite ich von morgens bis abends, da muss ich mich schon richtig bremsen“, schildert sie. Besonders angetan haben es ihr die Mahnmale und Gedenksteine, die es überall im Stadtgebiet von Hannover zu entdecken gibt. Deshalb ist sie auch vom Schreiben der Artikel etwas abgekommen und hat sich mehr auf das Fotografieren besonderer Objekte fokussiert. Dabei geht es Bärbel Miemietz aber nicht einfach um schöne Bilder, sondern um die Botschaft dahinter.

Kürzlich widmete sie sich etwa einem Gedenkstein auf dem Seelhorster Friedhof, der an die Zwangsarbeiter erinnert, die von den Nationalsozialisten kurz vor der Befreiung durch die Alliierten ermordet und in einem Massengrab verscharrt worden waren. Bärbel Miemietz hat den Gedenkstein von allen Seiten fotografiert und die Inschrift komplett abgetippt, und zwar im Original, also etwa auch in russischer Sprache, was für sie als gelernte Slavistin kein Problem ist. „Das ist mein kleiner Beitrag. Ich will damit die Erinnerung wachhalten und auch signalisieren, dass es dafür in Deutschland ein Bewusstsein gibt.“

In Hannover unterhält Wikipedia sogar Büroräume

Mit ihrem neugewonnenen Hobby, für das Bärbel Miemietz sichtbar brennt, ist sie in Hannover nicht allein. Mitten in der hannoverschen Innenstadt, im Uihlein-Haus in der Andreaestraße, hat das Wikipedia-Team seit 2019 seine eigenen Büroräume. Bereitgestellt werden diese von der dahinterstehenden Wikipedia-Stiftung. Dass es in Niedersachsens Landeshauptstadt so ein physisches Büro gibt, hat innerhalb der Wikipedia-Gemeinschaft durchaus Seltenheitswert. Ähnliche feste Teams mit echten Redaktionsräumen gibt es sonst nur in Berlin, Hamburg, München, Köln, Fürth und Stuttgart, überall sonst treffen sich die „Wikipedianer“, wie sie sich nennen, nur in Stammtischen oder arbeiten komplett allein. Bevor die Büros in Hannover angemietet wurden, durfte das noch ganz kleine ehrenamtliche Team in den Räumen des „Freundeskreises Hannover“ einen Arbeitsplatz mitnutzen.

Vorangetrieben hat die Professionalisierung seit knapp sieben Jahren Bernd Schwabe, der für sein Engagement im vergangenen Jahr sogar mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt wurde. Der Hannover-Experte macht sich derzeit besonders darum verdient, alte Postkarten zu finden, einzuscannen und so historische, nicht mehr existierende oder umgestaltete Straßenzüge der Landeshauptstadt wieder zu rekonstruieren. In der Vergangenheit bemühte sich das hannoversche Wikipedia-Team übrigens auch darum, die Abgeordneten des niedersächsischen Landtags in der Online-Enzyklopädie ordentlich abzubilden. Ein dauerhaftes Anliegen der Gruppe ist zudem die Dokumentation und Bebilderung des Stolperstein-Projekts von Gunter Demnig. In Zukunft soll ein Wikipedia-Projekte komplette Stadtführungen durch Hannover möglichmachen.

Rettungsaktionen aus der Lösch-Hölle

Noch nicht ganz so lange bei Wikipedia dabei wie Bernd Schwabe, aber deutlich länger als Bärbel Miemietz, ist ein Nutzer, der sich selbst „Stobaios“ nennt. Das ist sein Wikipedia-Pseudonym, seinen echten Namen behält er lieber für sich. Das ist durchaus so üblich in der Online-Community, Bärbel Miemietz hat sich jedoch dafür entschieden, auch im Netz mit ihrem Klarnamen aufzutreten („Was ich vorher gemacht habe und was ich jetzt mache, ist kohärent. Es gibt aber andere, die aus privaten oder beruflichen Gründen lieber unerkannt bleiben wollen“, erklärt sie im Rundblick-Gespräch). Das Pseudonym ist passend gewählt, denn Namenspatron Johannes Stobaios war „Autor und Sammler antiker philosophischer Aufzeichnungen und Lehrmeinungen“, wie man in der Wikipedia nachlesen kann. Der Pseudonym-„Stobaios“ hat sich derweil ein ganz spezielles Aufgabenfeld vorgeknöpft: Er rettet Artikel, die drohen, den Relevanzkriterien der Wikipedia nicht mehr zu genügen. Angemeldet habe er sich 2006, doch so richtig angefangen dann erst 2012, berichtet er im Rundblick-Gespräch.

Statt Artikel nach Fehlern zu durchsuchen oder ein paar Bilder zu ergänzen, wie das viele Neulinge tun, hat „Stobaios“ damit begonnen, kleinere Beiträge, die gelöscht werden sollten, durch das Aufstöbern von Belegen, Quellen und zusätzlichen Informationen aufzuwerten und so zu erhalten. „Dabei lernt man unglaublich viel“, erzählt er, der nach eigenen Angaben durch diese Tätigkeit nun in vielen neuen Themen zumindest rudimentäre Kenntnisse erlangt hat. Sein größter Triumpf war es wohl, dass er die Science-Bloggerin, Youtuberin und schließlich Corona-Erklärerin Mai Thi Nguyen-Kim aus der „Löschhölle“, wie er es nennt, befreien konnte – und zwar gleich mehrmals. Inzwischen ist „Stobaios“ derjenige registrierte Autor, der die meisten Einträge auf der Wikipedia-Seite der jungen Frau getätigt hat.

Die Welt hinter der Oberfläche

Dass dem so ist, lässt sich für Kenner der Wikipedia schnell herausfinden. Während der Normalo-Nutzer der Online-Enzyklopädie nur die Vorderseite des gigantischen Nachschlagewerks kennt, bewegen sich die Profis auf der Rückseite – im Quellcode, in Diskussionsforen oder in der besagten Löschhölle. Auch wenn viele im Netz mit Pseudonym unterwegs sind, so lasse sich anhand bestimmter Muster doch erkennen, ob etwa jemand mit einer bestimmten Absicht in der Wikipedia unterwegs ist, erläutert „Onkel Tomm“, der Daten-Crack innerhalb der hannoverschen Wikipedia-Gruppe. Die Wikipedia-Community setze auf Transparenz, erläutert er. Welcher Nutzer zu welchen Zeiten welche Beiträge bearbeitet, könne man sich relativ einfach anzeigen lassen. Wird dabei ein „man on the mission“ auffällig, also jemand, der beispielsweise mit einer bestimmten politischen Gesinnung Beiträge manipulieren will, könne dieser von Administratoren abgemahnt werden.

Die Kontrolle innerhalb der Wikipedia geschieht schließlich durch die anonyme Gruppe selbst. Änderungen kann zwar bekanntermaßen jeder vorschlagen, aber eine stets aufmerksame Gemeinschaft überwacht das sehr genau. Mit der Zeit füllt sich bei einigen so die Liste der Beiträge, die sie im Blick behalten. Wenn dort etwas verändert wird, bekommen die „Wikipedianer“ eine Nachricht und bewachen so mit einer unbekannten Gruppe die möglichst objektive Wahrheit eines bestimmten Sachverhalts.

Gerade das Objektive, das Absolute, die Zahlen sind die Welt von Nutzer „Onkel Tomm“. Sein Lieblingsprojekt der vergangenen Monate war eine Liste der größte Treibhausgas-Emittenten. Die Informationen waren zwar alle vorhanden, irgendwo – aber eben nicht systematisch zusammengestellt. Daran hat „Onkel Tomm“ maßgeblich mitgewirkt und eine Tabelle erstellt, mithilfe der man ganz einfach nach Ländern, Sektoren oder Arten von Treibhausgasen unterscheiden kann. Das ist letztlich das Urprinzip der Wikipedia – zusammenführen, was schon da ist, und so ein neues, freies, transparentes Bild der Welt zur Verfügung stellen.

Von Niklas Kleinwächter