Der Inzidenzwert, der gegenwärtig die Marschrichtung in der Corona-Politik bestimmt, ist in den vergangenen Wochen immer wieder kritisiert worden. Neue Maßstäbe seien nötig, hieß es. Aber würde das weiter helfen? Sozialministerin Daniela Behrens sagt, dass die Lage gegenwärtig ernst sei. Auch wenn man andere Kriterien einbeziehe, gebe es derzeit wenig Spielraum. Die SPD-Politikerin äußerte sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.

„Da mehr Tests dazu führen werden, dass auch die Zahl der Inzidenzen steigt, laufen viele Kommunen Gefahr, den Versuch zu starten und dann recht bald wieder abbrechen zu müssen“, sagt Gesundheitsministerin Daniela Behrens über die Modellkommunen – Foto: Herzig

Rundblick: Die Modell-Kommunen, in denen eine Öffnung von Geschäften und Gaststätten für negativ getestete Personen erprobt werden sollte, haben nach der Änderung des Bundesinfektionsschutzgesetzes keine Chance mehr. Hat sich dieses Modell erledigt?

Behrens: Es ist schwieriger geworden. Ja, dieses Konzept war Teil unserer Test-Strategie. Wir wollten die Menschen ermuntern, sich testen zu lassen – und als Entgegenkommen hätten sie dann die Chance gehabt, in den Modellkommunen ein paar mehr Freiheiten zu nutzen als bisher. Die strengen Vorgaben des jetzt geänderten Bundesinfektionsschutzgesetzes erlauben es nicht, diesen Versuch bei einer Inzidenz von mehr als 100 fortzusetzen. Da aber mehr Tests dazu führen werden, dass auch die Zahl der Inzidenzen steigt, laufen viele Kommunen Gefahr, den Versuch zu starten und dann recht bald wieder abbrechen zu müssen. Das ist schade. Wir haben ein gutes Dutzend Kommunen, die derzeit unter 100 liegen, nur zwei, die unter 50 liegen. Einige haben schon mitgeteilt, dass sie unter solchen Bedingungen gar nicht erst anfangen wollen mit dem Modell.

Die Lage ist sehr ernst. Viele Beschäftigte in den Intensivstationen der Krankenhäuser sind sehr erschöpft.

Rundblick: Ist denn das Festhalten an der Inzidenz als Maßstab, die nach wie vor die Basis des Bundesinfektionsschutzgesetzes ist, überhaupt noch angemessen? Brauchen wir nicht andere Kriterien, um die Situation angemessen zu beurteilen?

Behrens: Ehrlich gesagt sind auch die anderen Faktoren derzeit nicht gerade so, dass man daraus ein Signal für Öffnungen ableiten könnte. Der R-Wert, der die Ansteckungsgefahr beschreibt, sinkt nicht wesentlich. Und die Situation in den Kliniken ist nicht beruhigend. Wir haben auf den Intensivstationen noch 15 Prozent freie Betten. Etwa 20 Prozent der Betten sind belegt für Operationen im sogenannten elektiven Bereich, also für geplante Operationen. 50 Prozent sind belegt mit Schlaganfällen, Herzinfarkten und ähnlichen Erkrankungen. Wir haben noch keine dramatische Lage, und notfalls könnten wir rund 1000 Notfallbetten aktivieren. Auch sind wir noch nicht so weit gegangen wie im Frühjahr 2020, als die geplanten Operationen verschoben wurden. Aber dennoch ist die Lage sehr ernst. Viele Beschäftigte in den Intensivstationen der Krankenhäuser sind sehr erschöpft.

„Die Hausärzte sind gehalten, den Impfstoff vorrangig an die älteren Patienten und die mit Vorerkrankungen zu vergeben“, sagt Gesundheitsministerin Daniela Behrens – Foto: Herzig

Rundblick: Wie geht es mit der Impfkampagne weiter? Können wir nicht bald die strenge Vorgaben nach der Prioritätenliste aufgeben – zumindest dann, wenn die Hausärzte verstärkt in die Impfungen einbezogen werden? Darf ein Hausarzt eine 50-jährige impfen, wenn er es für richtig hält?

Behrens: Die Priorisierungsgruppen sind derzeit der Maßstab, denn wir haben insgesamt noch zu wenig Impfstoff zur Verfügung, und das Virus ist für ältere Menschen nun mal viel gefährlicher als für jüngere. Die Hausärzte sind daher gehalten, den Impfstoff vorrangig an die älteren Patienten und die mit Vorerkrankungen zu vergeben.

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Rundblick: Wird das kontrolliert, müssen die Hausärzte Rechenschaft ablegen?

Behrens: Die Hausärzte melden ihre Impfquote mit den Daten an das Impfmonitoring des RKI. Eine Nachkontrolle wird es nicht geben, das ist auch nicht nötig. Die Ärzte wissen selbst am besten, wie sie ihre Patienten behandeln.

Was die Großraumbüros angeht, sind diese bisher nicht als Hotspot aufgefallen. Wir gehen eher davon aus, dass die Ansteckungen vorwiegend im privaten Umfeld geschehen.

Rundblick: Was schätzen Sie, wie viel Prozent der niedersächsischen Bevölkerung über 16 Jahren wird zu Beginn der Sommerferien im Juli geimpft sein?

Behrens: Das kann man immer nie genau vorhersagen, da das sehr stark von den Lieferungen der Impfstoffe abhängt – und schon oft sind zugesagte Lieferungen dann nicht eingetreten. Grob geschätzt denke ich, wir werden Ende April an 27 Prozent der Niedersachsen eine erste Impfung gegeben haben, Ende Mai vielleicht an 40 Prozent – und im Juli könnte der größte Teil das bekommen haben. Für die erwünschte Herdenimmunität ist die Zweitimpfung wichtig, die wird dann anschließend kommen. Angekündigt sind bis Ende Juni in der Bundesrepublik 50 Millionen Impfdosen mit Biontech, 7 Millionen Dosen mit Moderna – für Astrazeneca und Johnsen & Johnsen liegen noch keine Mitteilungen vor.

Rundblick: Noch ein Wort zu den Tests – die Grünen fordern eine strengere Pflicht für die Unternehmen, hier tätig zu werden. Halten Sie das für erforderlich?

Behrens: Die Unternehmen müssen die Tests ihren Mitarbeitern anbieten. Wir befinden uns regelmäßig im Austausch mit den Vertretern der Wirtschaft, und meine Erfahrung ist, dass sehr viele Unternehmen sich längst darauf eingestellt haben und auch eine Strategie entwickelt haben. Alle sind unterwegs – weil sie auch wissen, dass viele Tests ein gutes Mittel sind, einen Überblick über das Infektionsgeschehen und die Ausbreitung des Virus zu gewinnen. Das schützt ja auch die Arbeit im Betrieb oder Unternehmen. Wir haben einige Infektionsherde bereits erkannt – so war das mal auf der Meyer-Werft der Fall, aber auch in einigen Schlachthöfen. Was die Großraumbüros angeht, sind diese bisher nicht als Hotspot aufgefallen. Wir gehen eher davon aus, dass die Ansteckungen vorwiegend im privaten Umfeld geschehen. Die Beschränkungen, die mit dem Lockdown einhergehen, werden eben nicht mehr so ernst genommen wie in der Anfangszeit der Pandemie. Es bröckelt. Aber auf der Einhaltung der Regeln beruht nun mal unser demokratisches System.