Viele Flüchtlinge aus der Ukraine kommen direkt in Hannover an. Vom Messebahnhof Laatzen werden sie dann weiter verteilt. | Foto: Link

Rollkoffer und schweres Reisegepäck sind die Ausnahme. Die meisten Ukrainer, die an diesem Montagvormittag vor dem Messebahnhof Laatzen warten, haben nicht mehr als einen Rucksack und eine Tasche dabei. Ein Mann trägt sogar nur eine Sporttasche und eine Einkaufstüte. Er ist mit Turnschuhen, Trainingshose und Winterjacke bekleidet. „Ich komme aus Charkow, das gerade von Putin-Truppen bombardiert wird. Ich bin seit vier Tagen unterwegs“, sagt er auf Ukrainisch. Ein Dolmetscher übersetzt, dass er einfach nur froh und dankbar über die Hilfe sei. Und er sei auch erleichtert, dass er nun endlich „eine festere Bleibe“ findet. Seine nächste Station wird Celle oder Peine sein. Drei Reisebusse im Auftrag der Landesaufnahmebehörde stehen schon bereit, um die Flüchtlinge in die dortigen Notunterkünfte zu bringen, denn in Hannover können sie nicht alle bleiben. Halle 27 auf dem Messegelände ist mit 1200 Menschen bereits voll belegt.  

In dieser Woche geht nun auch Halle 26 in Betrieb. In nicht einmal zwei Tagen hat die Feuerwehr Hannover eine Zeltstadt errichtet, in der 750 Geflüchtete unterkommen können. Mehr als 40 Sattelschlepper lieferten am Donnerstag die dafür nötigen Zelte, Bauzäune, Betten und Elektrogeräte an. Die Gabelstapler, die das Material zu den rund 100 Feuerwehrleuten in die Halle brachten, rollten ununterbrochen. Seit der Flüchtlingskrise 2015 haben Feuerwehrchef Dieter Rohrberg und seine Kameraden jede Menge Erfahrung beim Aufbau eines Flüchtlingslagers. „Das muss wie ein Uhrwerk laufen“, sagt Rohrberg bei einem Rundgang am vergangenen Freitag. Und genau das lässt sich auch beobachten. Viele kleine Aufbauteams arbeiten parallel: Einige Feuerwehrleute bauen Zelte auf, manche verlegen Elektrokabel, während andere Waschmaschinen anschließen oder Gitterbetten aus Holz zusammensetzen. „Wir wussten, dass dieses Mal überwiegend Frauen und Kinder kommen werden. Die Anzahl an Kinderbetten wurden der Lage angepasst“, erklärt der Feuerwehrchef.

Von oben betrachtet erinnert der Aufbau des Flüchtlingslagers an ein römisches Legionärslager. „Es ist weit davon entfernt, ein richtiges Zuhause zu sein, aber es ist zumindest etwas, das man hat“, sagt Feuerwehrmann Jörg Segreff, der den Aufbau koordiniert. Immer vier Zelte mit jeweils acht Betten bilden zusammen ein Dorf, das von hohen Sichtschutzzäunen umgeben ist. Das bietet nicht nur etwas Intimsphäre, sondern hat auch angesichts von Corona einen praktischen Vorteil: Im Falle eines Virusausbruchs können die Dörfer in Quarantänestationen umfunktioniert werden, um eine Ausbreitung zu verhindern. Die Infektionsgefahr ist groß. In der Ukraine liegt die Impfquote nur bei rund 35 Prozent, wie Gesundheitsministerin Daniela Behrens mitteilte. 

Feuerwehrchef Dieter Rohrberg (Mitte) erklärt bei einem Rundgang mit Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (rechts) und Stadträten die Situation in Messehalle 26. | Foto: Link

Auf jedem „Dorfplatz“ stehen fünf Tische und 20 Stühle. Jeder „Dorfbewohner“ hat einen eigenen Spind, aber es gibt nur einen Kühlschrank. Mit Essen und Trinken werden die Flüchtlinge in der Cafeteria versorgt. In Halle 27 habe sich dieses System wieder einmal bewährt. „Die Dorfstruktur ist uns heilig“, sagt Segreff. Und auch Rohrberg bestätigt: „Es ist eine entspannte Atmosphäre. Man hat nicht den Eindruck, dass 1000 Menschen in der Halle sind, weil alles nicht so dicht gedrängt ist. Die Menschen brauchen ein ruhiges Umfeld, in dem sie wieder Vertrauen fassen.“ Damit der Lärmpegel in der Halle reduziert wird, wurden auch bewusst Freiflächen gelassen. In diesen Bereichen finden sich auch die mobilen Duschcontainer. „Die sind quasi erst gestern vom Band gefallen“, sagt der stellvertretende Feuerwehrchef Christoph Bahlmann und stöhnt über die hohen Kosten, die ihn an die Preisentwicklung an den Zapfsäulen erinnern. „Im Grunde ist es egal, was etwas kostet, Hauptsache es gibt das noch“, meint er. Bei den WC-Anlagen wird auf das zurückgegriffen, was in der Messehalle ohnehin schon vorhanden ist. 

Für die Feuerwehr wird es immer schwieriger, zusätzliche Flüchtlingsunterkünfte einzurichten. „Wir waren gut vorbereitet. Wir hatten ein Katastrophenschutzlager, in dem wir viel aus den Beständen vorgehalten haben“, berichtet der stellvertretende Feuerwehrchef Christoph Bahlmann. Viele Waschmaschinen und Trockner hatte die Feuerwehr zum Beispiel noch auf Lager. Auch einige der Matratzen waren noch original verpackt. Doch allmählich wirken sich die weltweiten Lieferengpässe auch bei der Flüchtlingshilfe aus. Bauzäune sind bereits Mangelware und an Zelte kommt man nicht mehr so leicht ran wie noch vor sechs Monaten, sagt Segreff und meint: „Wir müssen jetzt schauen: Was können wir verändern, was müssen wir verändern und was müssen wir vielleicht auch weglassen.“ Hierzu will sich die Feuerwehr mit den Betreibern der Unterkünfte abstimmen. 

Für die Messehallen 26 und 27 wird das Deutsche Rote Kreuz zuständig sein. Noch hat das DRK die Lage im Griff, doch DRK-Landeschef Ralf Selbach warnt: „Der Katastrophenschutz in Niedersachsen ist wie in vielen Ländern unterfinanziert geblieben. Wir haben zwar für jede Lage einen Puffer, aber wenn der Flüchtlingsansturm so weiter geht, sind wir ganz schnell blank.“ Beim gestrigen Besuch von Wirtschaftsminister Bernd Althusmann trägt Selbach deswegen zwei Wünsche vor: Er möchte mehr Geld für den Katastrophenschutz und mehr Rechtssicherheit für die ehrenamtlichen Helfer. Während Feuerwehrleute von ihren Arbeitgebern für Einsätze freigestellt werden können, ist das bei den ehrenamtlichen DRK-Rettungskräften nicht so ohne weiteres möglich, solange nicht der Katastrophenfall ausgerufen wurde. „Wenn unser Rettungswagen zum gleichen Einsatz wie die Feuerwehr fährt, werden unsere Mitarbeiter trotzdem nicht automatisch freigestellt“, kritisiert Selbach und fordert deswegen: „Wir brauchen das landesweite Ereignis als Voralarm.“ Der DRK-Chef hegt die Hoffnung, dass eine entsprechende Freistellungsregelung noch per Omnibusverfahren in das neue Rettungsdienstgesetz rutschen könnte, das nächste Woche im Landtag beschlossen werden soll.  

Althusmann macht hier noch keine Zusagen. Er sagt aber klar: „Die Zivilschutzentwicklung nach den 90er Jahren war ein strategischer Fehler. Ich plädiere sehr dafür, dass wir den Zivil- und Katastrophenschutz in Deutschland endlich auf ein vernünftiges Maß heben.“ Der CDU-Landeschef will dem Katastrophenschutz deswegen schnell eine Geldspritze verpassen und schielt auf den Etat der Landesaufnahmebehörde. Dort würden noch mehrere Millionen Euro liegen, die bislang nicht verwendet wurden und als Ad-hoc-Hilfe verfügbar wären.  

Bernd Althusmann (Mitte) schaut sich mit Ralf Selbach (ganz rechts) die DRK-Station am Messebahnhof Laatzen an und spricht mit Flüchtlingen. Ein Dolmetscher übersetzt.

Vor dem Messebahnhof spricht Althusmann auch mit einer Flüchtlingsfamilie. Seine Eindrücke fasst er danach wie folgt zusammen: „Die Menschen sind erschöpft. Sie sind nach Tagen der Reise mit ihren Nerven und körperlichen Kräften am Ende. Sie haben sich sehr, sehr bedankt, dass sie hier Schutz in Deutschland finden und den werden wir natürlich gewähren.“ Ihn persönlich habe vor allem die Begegnung mit den beiden aus der Ukraine geflüchteten Mädchen Kira und Milana (5 und 7 Jahre) bewegt.

„Ich habe sie gefragt, was sie machen, wenn der Krieg vorbei ist. Und die beiden haben sofort gesagt, dass sie dann sofort nach Hause wollen. Dabei hatten sie Tränen in den Augen. Das ist mir sehr nahe gegangen“, berichtet Althusmann, der selbst drei Kinder hat. Als Wirtschaftsminister will er sich jetzt vor allem darum kümmern, dass die Flüchtlinge so schnell wie möglich auch Zugang zum Arbeitsmarkt finden. „Das ist aber erst der zweite Schritt“, sagt Althusmann und betont: „Zunächst geht es darum, schnell zu helfen und die Menschen zur Ruhe kommen zu lassen. Dann müssen sie selbst entscheiden, ob sie in ihre Heimat zurückwollen.“