Ich hätte die Polizei rufen sollen. Im Nachhinein denke ich, ich habe so ziemlich alles falsch gemacht in dieser Situation. Aber in dem Moment fühlte es sich richtig an, anständig. Erst die Reaktionen meines Umfelds machten mir dann deutlich: Das war ganz schön dumm. Ich habe mich leichtfertig verhalten. Das war riskant.

Foto: nkw

Was ist geschehen? Es war zu Beginn meines Urlaubs, ich war mit Freunden in Hannover im Kino. Anschließend gingen mein Freund und ich vom Anzeiger-Hochhaus über den Hauptbahnhof zurück in die List, wo wir wohnen. Es war eine laue Sommernacht von der Sorte, die wir in diesem Jahr nicht allzu viele hatten. Also entschlossen wir uns kurzerhand, diese Nacht noch ein wenig zu verlängern, und kehrten in unserer Stammkneipe ein. Wir waren nicht die einzigen, die auf die Idee gekommen waren, den Abend noch bei einem kühlen Getränk unter freiem Himmel ausklingen zu lassen.

Doch dann passierte etwas, das die ausgelassene Stimmung zu einem plötzlichen Ende brachte. Es rummste in der nahegelegenen U-Bahn-Station. Erst einmal, dann noch einmal. Und noch mal. Man hätte es ignorieren können. Nächtlicher Lärm ist in einer Großstadt doch nichts Besonderes. Das gehört halt dazu. Wenn etwas wirklich Schlimmes geschehen wäre, hätte sich doch sicher schon jemand darum gekümmert. Es hätte viele Gründe gegeben, einfach wegzuhören. Was scheren mich die Probleme anderer Leute, solange es nicht meine sind?

Es kümmert mich eben doch! Natürlich kümmert es mich, es muss mich kümmern.

Doch ich dachte und fühlte in diesem Moment etwas anderes. Ich ärgerte mich genau über diesen Gedanken, die Situation einfach zu ignorieren. Es kümmert mich eben doch! Natürlich kümmert es mich, es muss mich kümmern. Denn schließlich lebe ich in diesem Stadtteil. Ich verbringe meine Zeit gerne hier, ich genieße das Flair am Tag und auch in einer solchen Nacht. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass genau daran sich mit diesem Geräusch etwas änderte. Es wird daran gerührt, dass diese Stadt, zumindest dieser Stadtteil tags wie nachts ein angenehmer Ort ist. Und wieder kann man sagen: Was kümmert es dich, so ist halt Großstadt. Doch ich dachte in dieser Nacht auch: Wenn jeder so denkt, kann es mit diesem Ort nur bergab gehen.

Des Rätsels Lösung: In unmittelbarer Nachbarschaft hatten Jugendliche sich an einem Snack-Automaten vergriffen, ihn mit roher Gewalt aufgebrochen und waren dabei, ihn auszurauben. Doch was einem widerfährt, der dazwischen geht, erzähle ich etwas später. Zunächst noch ein paar Sätze zum Ruf meiner Heimatstadt.


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In Hannover wird derzeit viel über die Nutzung öffentlicher Flächen diskutiert. Auch das beschäftigte mich an diesem Abend unterschwellig. Denn mein Heimweg führte mich, wie geschildert, einmal quer durch die Innenstadt. Man könnte auch sagen: einmal entlang den allermeisten innerstädtischen Problemzonen. Nahe am Anzeiger-Hochhaus ist das Steintor-Viertel, das für Prostitution wie für wahlweise Clan- oder Rocker-Kriminalität bekannt ist.

Der Hauptbahnhof ist nur zur Shoppingmeile hin halbwegs schön. Auf der anderen Seite teilen sich die Areale auf in den Bereich der Trinker- und jenen der Drogen-Szene, die man Tag wie Nacht nicht übersehen kann. Die Trinker-Szene erstreckt sich weiter vom Raschplatz über den Andreas-Hermes-Platz bis hin zum Weißekreuzplatz – und auch am Lister Platz sind gewisser Trinkerrunden schon etabliert. Mit allem, was dazu gehört.

Über diese Problemzonen wird in Hannover nicht so gerne geredet, wenn es um die „Zurückeroberung des öffentlichen Raumes“ geht.

Doch über diese Problemzonen wird in Hannover nicht so gerne geredet, wenn es um die „Zurückeroberung des öffentlichen Raumes“ geht. Stattdessen werden mehr oder weniger sinnvoll Straßen gesperrt, um an den angrenzen Plätzen sogenannte Experimentierräume einzurichten. Aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass zumindest der Raum auf dem Köbelinger Markt nicht so besonders gut von der Bevölkerung angenommen wurde. Im September nun verlagert sich das Experiment auf den Opernplatz, die ersten Anzeichen lassen sich schon erkennen: Blumenkübel, Sitzgelegenheiten und gelbe Linien, die dem Radverkehr mehr Platz einräumen. Alles feine Sachen, finde ich. Doch dieses Beauty-Programm für brachliegende Innenstadtflächen allein sorgt noch nicht für mehr Vergnügen beim Flanieren in der Innenstadt, vor allem nicht nach Einbruch der Nacht.

Die Meldungen von extremer Gewalt auf offener Straße haben, meinem Empfinden nach, zugenommen. So gab es mehrfach Messerstechereien zwischen gewissen Gruppen rund um die Oper. Oder erst kürzlich eine Schlägerei direkt vor dem Haus, in dem das Politikjournal Rundblick seine Redaktionsräume hat. Diese Schlägerei schaffte es sogar in die Lokalpresse, weil einer der Beteiligten nach einem Schlag gestürzt ist und danach weiter derart malträtiert wurde, dass sein Leben bedroht war. Was, dachte ich jetzt, wenn schon wieder so etwas geschieht – in meiner unmittelbaren Nähe?

Ich sehe sie an, sie sehen mich an – aber es passierte nicht, was ich vermutet oder gehofft hatte.

Nur kurze Zeit vor diesem Vorfall war unweit des Lister Platzes im Stadtwald Eilenriede ein Obdachloser erstochen worden. Auch in der Bahnstation kampieren gelegentlich Obdachlose. Lässt hier also, dachte ich, jemand seine Aggressionen an einem der verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft aus? Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, aber auch die Idee: Sollte es sich „nur“ um Sachbeschädigung handeln, könnte ja vielleicht schon die Anwesenheit einer anderen Person dazu führen, dass die Randalierer ablassen.

So ging ich also, in dem Moment mutiger als ich eigentlich bin, vorsichtig die Treppe zur Verteiler-Ebene der U-Bahn-Station hinunter. Angetroffen habe ich drei Jugendliche, die dabei waren, den zuvor lautstark aufgebrochenen Snack-Automaten zu plündern. Ich sehe sie an, sie sehen mich an – aber es passierte nicht, was ich vermutet oder gehofft hatte. Keine Spur eines Schuldbewusstseins, keine Fluchttendenz. Sie machten weiter, boten mir sogar einen wohl erbeuteten Schokoriegel an und meinten, ich sollte einfach zur Bahn weitergehen und sie nicht beachten.

Hätte ich nun zum Handy gegriffen, um die Polizei zu rufen, hätte ich wohl sicher seine Faust im Gesicht gehabt.

Zur Bahn wollte ich ja aber gar nicht. Und eine Konfrontation wollte ich auch nicht. Deshalb machte ich kehrt und ging die Treppe schnell wieder hoch, zurück zu meinem Platz im Außenbereich der Kneipe, an dem ich mich in Sicherheit wähnte. Doch weit gefehlt, denn ich wurde verfolgt. Hätte ich die Polizei rufen sollen? Vielleicht wäre das in diesem Augenblick die letzte Chance gewesen. Denn der offensichtliche Kopf der drei Jugendlichen hatte sich nun vorgenommen, mich einzuschüchtern, damit ich eben genau das nicht mehr tun konnte.

Er blaffte mich und meinen Begleiter an, überzog uns mit Schimpfwörtern und warf mit Lakritz nach uns, das er vermutlich zuvor aus dem Snack-Automaten erbeutet hatte. Hätte ich nun zum Handy gegriffen, um die Polizei zu rufen, hätte ich wohl sicher seine Faust im Gesicht gehabt. Zwischenzeitig kam er mir so bedrohlich nah, dass an einen Corona-Sicherheitsabstand gar nicht mehr zu denken war. Ich entschied mich, die Beleidigungen und Drohungen ohne Reaktion hinzunehmen. Schließlich ließen sie ab und verschwanden im Dunkel der Nacht. Hätte ich nun die Polizei rufen sollen? Vielleicht, doch ich war viel zu aufgekratzt, konnte gar nicht mehr klar denken und wollte eigentlich nur noch nach Hause.



Bemerkenswert war, was dann noch alles geschah, die Reaktionen des Umfelds: Die Mitarbeiter der Kneipe belächelten mich, weil das doch inzwischen ganz normal sei – und einige meinten, dass man bei sowas lieber wegsehen sollte, sonst habe man ganz schnell ein Messer zwischen den Rippen. Das ist es also: lieber wegsehen, sonst ist man selber dran? Wieder zuhause schilderte ich dann mit Wut im Bauch die Situation auf meinem Facebook-Profil. Manche Facebook-Freunde reagierten verstimmt, weil ich erwähnt hatte, dass die drei Jugendlichen dem Anschein nach einen Migrationshintergrund hatten. Einige zeigten dann Verständnis für diese Jugendlichen, weil sie sicher häufig sozial ausgegrenzt wurden – was aus meiner Sicht keine Entschuldigung sein darf. Eine Kommentatorin deutete an, mit Lakritz beworfen zu werden, sei doch nicht so schlimm. Als Lehrerin sei sie das gewohnt. Ich bin kein Lehrer, aber ich denke, wem das alles nicht so schlimm erscheint, der hat eine solche Situation entweder noch nie oder schon zu häufig erlebt.

Und dann gab es aber auch den Zuspruch, teils öffentlich, teils nur in privaten Nachrichten. Freunde und Bekannte schilderten von ähnlichen Situationen, von Bedrohungen in der Straßenbahn. Erst am vergangenen Sonnabend ging übrigens ein Mann zur U-Bahn-Station „Marienstraße“, er wurde umzingelt und ausgeraubt, die Polizei sucht Zeugen. Ist das heute normal?

Von Niklas Kleinwächter