Wieso ist das Wahlergebnis so gekommen, wie es gekommen ist? Hier fünf Thesen als Erklärungsversuch:

Die SPD überdeckte mit Stephan Weil die Krise:

Von Anfang an hatten die Sozialdemokraten vor, den Wahlkampf ganz auf den populären Ministerpräsidenten Stephan Weil zuzuschneiden und ihn als sicheren Navigator für das Schiff in unruhiger See zu präsentieren. Daran haben sie sich auch gehalten. Nun war das Bild, das von Weil gezeigt wurde, nicht einheitlich, sondern vielschichtig. Die erste Serie der Wahlplakate, die den freundlichen und aufmerksamen Spitzenkandidaten neben einer Grundschülerin zeigte und neben einer Windkraftanlage, kam erst mit Verzögerung an den Start – denn zuvor entschied sich die SPD kurzfristig, einen ernst dreinblickenden Weil mit dem Spruch „Keine Zeit für Sprüche“ zu plakatieren.

Foto: Kleinwächter

Das trug zum Facettenreichtum der Botschaften bei, denn während der SPD-Spitzenmann teilweise staatsmännisch ernst schaute, auch auf einem neuen Plakat mit dem Spruch „Verantwortung in schwierigen Zeiten“, wurden Weil-Zeitungen verteilt, die einen lächelnden, sommerlich entspannten Ministerpräsidenten zeigten – garniert mit einem Kochrezept („Pizza da Stephano“).  Mal jovialer Landesvater, mal ernster Garant in der Krise – der SPD-Wahlkampf wirkte so etwas beliebig. Geschadet hat es der Partei aber nicht. Selbst der Ärger mit den Berliner Genossen konnte die Stimmung nicht trüben. Mal versprach Weil auf Veranstaltungen in Anwesenheit des Kanzlers „Olaf, wir stehen an Deiner Seite“, dann wieder übte er unverhohlen Kritik an der zögerlichen, wenig konkreten und unentschiedenen Art, in der das Kabinett Scholz auf die Energiekrise reagierte. Doch zu sehr deutlichen, sehr klaren Ansagen in Richtung Berlin wollte sich Weil nicht durchringen. Dieses Lavieren haben ihm die Wähler dann am Ende nicht übel genommen, sondern als Ausweis seiner Abgewogenheit interpretiert. Einmal mehr hat Weil also in seinen Wahlkämpfen geschickt taktiert, aber auch großes Glück gehabt und den richtigen Ton getroffen.

Die CDU konnte Althusmann nicht als Alternative aufbauen:

Der CDU gelang es nicht, die Schwäche der Ampel-Regierung in Berlin und der Bundes-SPD für die eigene Profilschärfung in Niedersachsen zu nutzen. Das mag daran liegen, dass Spitzenkandidat Bernd Althusmann häufig noch etwas steif, unnahbar und zu wenig zielstrebig wirkte. Den Mut, etwa spätestens ab Mitte September mit der Forderung nach einem Energiepreisdeckel offensiv nach vorn zu gehen und dies dann entschlossen in den Mittelpunkt zu stellen, hatten die Väter der CDU-Kampagne nicht – womöglich hätten sie es tun sollen, um die SPD stärker herauszufordern. Sie blieben hier viel zu zögerlich.

Foto: CDU

Der CDU-Landesvorsitzende war wegen seiner Doppelrolle als Weils Minister und Weils Herausforderer an einem klareren Wahlkampfprofil gehindert. Obwohl es im CDU-Wahlkampf – anders als 2017 – nur zu wenigen Pannen und Fehlern kam, ein Beispiel sind die wenig kontrastreichen Farben der Plakate, erschien die Kampagne nicht rundum gelungen. Die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft klappte nur mäßig. Die CDU blieb unterm Strich viel zu angepasst und unauffällig. Sie verzichtete auch darauf, mit dem für die SPD heiklen Thema der Russland-Kontakte niedersächsischer Sozialdemokraten zu provozieren. Ministerpräsident Weil, den Althusmann ablösen wollte, wurde von den Christdemokraten im Wahlkampf vor Angriffen verschont, also konnte der SPD-Spitzenmann umso überparteilicher strahlen.

Auch die grünen Bäume wachsen nicht in den Himmel:

Als Hauptschwäche der Grünen in Niedersachsen kann genannt werden, dass sie sich im Bewusstsein der Wähler immer nur als Teil von Rot-Grün und nicht als eigenständige Gestaltungskraft verankern wollten. Der Grund dafür mag die extrem linke Prägung der Leitfiguren des Landesverbandes sein. Co-Spitzenkandidat Christian Meyer ließ im Wahlkampf keine Gelegenheit aus, die in der offiziellen Parteilinie als Möglichkeit beschriebene schwarz-grüne Variante madig zu machen. Die Spitzenkandidatin Julia Hamburg hatte kein vergleichbares Standing zu den Grünen-Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein oder NRW, sie konnte sich vom Kollegen Meyer nicht lösen und deshalb auch nicht zur starken Leitfigur werden.

Foto: Kleinwächter

Bis zum Schluss war Hamburg immer nur neben Meyer im Doppelpack sichtbar, etwa auf den Großflächenplakaten. Weil Vertreter des Realo-Lagers bei den niedersächsischen Grünen eine kleine Minderheit unter den Funktionären und auf den guten Plätzen der Landesliste eine Rarität sind, blieb der Reiz für eher konservative Wähler, diesmal die Grünen anzukreuzen, doch sehr begrenzt. Das mehr oder weniger offen vom Grünen-Spitzenpersonal vorgetragene Bekenntnis, sich Rot-Grün als Lieblingsvariante zu wünschen, verstärkte diesen Eindruck noch.

Der lustlose Wahlkampf langweilt die Wähler:

Die Politiker spürten schnell, dass landespolitische Themen wie Unterrichtsversorgung, Infrastrukturausbau oder Kindergartenangebote die Menschen nicht wirklich bewegen. Das lag nicht etwa daran, dass es keine Probleme oder keinen Stoff für Streitigkeiten gegeben hätte. Vielmehr sind die Wähler in diesen Tagen zu stark beschäftigt mit den Sorgen der Energieversorgung, des Gasmangels und der Eskalation in Putins Angriffskrieg, als dass sie die anderen Probleme noch als dringlich empfinden würden. Alles neben der Energiepolitik lief Gefahr, übersehen oder als Ablenkungsversuch wahrgenommen zu werden. Deshalb wurde der Wahlkampf teilweise als lustlos empfunden, da Landespolitik streckenweise an den Empfindungen der politisch interessierten Bürger vorbei zu gehen schien.

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Die AfD schaffte einen Erfolg ohne großes eigenes Zutun, sie zog von Anfang an die Proteststimmen auf sich. Die Tatsache, dass die Partei nach Monaten der Selbstzerfleischung jetzt geschlossen wirkte, mag auf ihr Pluskonto eingezahlt haben. Die FDP hätte eigentlich die Bildungspolitik nach vorn stellen wollen, schwenkte aber um auf ihr Ja zur Kernenergie – ein Schritt, der für viele Wähler schrill und abschreckend wirkte, da die Zahl der überzeugten Anhänger der Atomkraft vermutlich weit unter 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen dürfte. Zum Schluss wirkte die FDP mit ständigem Wechsel ihrer Hauptbotschaften wie eine Partei in Panik, der frontale Angriff von FDP-Landesgeneralsekretär Konstantin Kuhle auf Althusmann wurde auch in eigenen Reihen als unnötig und deplatziert empfunden.

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Die Personalisierung stößt an ihre Grenzen:

Bei der SPD, so lässt es sich sagen, ist die Personalisierung rundum gelungen. Stephan Weil wurde, wie einst Paul von Hindenburg in der Reichspräsidentenwahl 1932, als der Retter in der Krise dargestellt und durchaus glaubwürdig vermittelt. Wohlgemerkt: Dieser Vergleich bezieht sich allein auf die Form der Kampagne in einer schwierigen gesellschaftlichen Lage, er abstrahiert von den konkreten historischen Bedingungen und politischen Ausrichtungen der Akteure, die sich natürlich gründlich unterscheiden. Wie Hindenburg damals erschien Weil jetzt nicht als der große Manager der Krise, sondern als weiser Mann in einer altväterlichen Verlässlichkeit und Gewissheit. Bei Althusmann gelang die Personalisierung nur mäßig gut, obwohl auch die CDU die Kampagne ganz auf die Spitzenfigur zugeschnitten hatte. Dass er an Stärke und Tatkraft den amtierenden Ministerpräsidenten überflügeln könnte, war zu keiner Zeit erkennbar. Zum Ende des Wahlkampfs dann verschob die CDU ihre Schwerpunkte, rückte weniger Althusmann und mehr die Kritik an den zögerlichen Beschlüssen der Ampel-Koalition in den Mittelpunkt. Die CDU wird sich jetzt fragen, ob ein auf bestimmte Leitthemen zugeschnittener Wahlkampf nicht erfolgversprechender gewesen wäre – und ob es richtig war, während des Wahlkampfs die eigene Zielrichtung zu ändern.