Post vom Sozialamt, Anträge für einen Sprachkurs oder Papiere für das neue Konto bei der Sparkasse: Der prall-gefüllte Ordner, den Olha gerade auf ihren Beinen balanciert, ist gut strukturiert. Schon einmal zahlte sich die Ordnung der Ukrainerin aus, als sie mit einem Griff alle wichtigen Dokumente zusammenpacken konnte, um mit ihrer Familie aus ihrer Heimat zu flüchten. Seit mehreren Monaten wohnt die 36-Jährige nun in Hannover, die Wohnung wurde ihr kostenfrei vom Fotografen Henning Scheffen zur Verfügung gestellt.

Damit im neuen Ordner auch ja nichts verknittert, hat Olha zusätzlich die meisten Blätter noch einmal in Klarsichthüllen verpackt. Alle Dokumente sind für sie wichtig. Sie sind die Eintrittskarte in eine Zukunft in Deutschland. Und die ist auf Deutsch. Ein Problem, denn noch kann die Mutter zweier Kinder ohne Hilfe sämtliche Unterlagen ihres Ordners nicht lesen.

Olha ist mit ihrer Familie vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Jetzt kämpft sie mit der Bürokratie. | Foto: Struck

„Was ist das zum Beispiel?“, fragt sie auf Englisch und zieht einen Antrag auf Kindergeld aus dem Ordner. Er befand sich vor ein paar Tagen in der Post und der Google-Übersetzer half bisher wenig weiter. Jetzt wartet Olha auf ihren nächsten Termin beim Jobcenter, wo mit ihr jemand gemeinsam das Dokument ausfüllen muss. Ressourcen, die man aus ihrer Sicht gut sparen könnte. „Wenn zum Beispiel ein Begleitschreiben auf Ukrainisch beiliegen würde, das mir erklärt, welche Informationen ich wo eintragen muss, kann ich direkt das ausgeschriebene Formular mitnehmen. Das würde für die Beamten vor Ort die Arbeit viel leichter machen“, schlägt sie vor. Sie hätte sich auch eine Liste von der Regierung gewünscht, welche ersten Schritte in Deutschland von ihr erwartet werden. So habe sie erst kürzlich herausgefunden, dass sie ihre Haustiere schon längst hätte registrieren lassen müssen. „Ich verstehe aber auch, warum die Organisation teilweise schwierig ist. Euer Land war auf diesen Krieg nicht vorbereitet. Wir waren ja selbst nicht vorbereitet.“


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Als Olha mit ihrer Familie am 9. März, fast zwei Wochen nach Kriegsbeginn, in Deutschland ankam, standen alle noch unter Schock. In den Morgenstunden des 24. Februars hatte sie ihr ehemaliger Mann aus dem Schlaf geklingelt. Russland war in die Ukraine einmarschiert. Innerhalb von zwei Stunden packte sie alles Nötige zusammen, um mit ihrer Familie Kropywnyzkyj (Kirovohrad) zu verlassen. „Mein Lebensgefährte, meine Mutter und ich hatten nur das mit, was wir am Körper trugen“, sagt Olha. Die extra verpackte Kleidung war nur für die Töchter Sara und Arina bestimmt. Den restlichen Platz im Auto brauchten sie für Essen, Decken und ihre Katze Tribeka und Hündin Marti.

„Wenn du dann in Deutschland ankommst, bist du erst einmal blind, taub und wirst schnell frustriert. Du weißt nicht, was du tun sollst, was die nächsten Schritte sind“, schildert die Ukrainerin ihre ersten Eindrücke. Das System, die Sprache, die Menschen, alles war anders. Und statt aktiv ein Teil der Gesellschaft werden zu können, zu arbeiten und sich auszutauschen, ist die fünfköpfige Familie erst einmal zum Warten verdammt. Olha suchte im Internet selbstständig nach Informationen, nahm Kontakt mit einer Organisation auf und schrieb an das Sozialamt. Einen Monat wartete sie vergeblich auf eine Antwort. „Ich begann zu zittern. Ich wusste nicht, ob man meine Nachricht überhaupt gesehen hatte. Wenn du weißt, dass du warten musst, ist das okay, aber sonst ist es einfach nur nervenaufreibend“, sagt Olha, für die das Bürokratie-System in Deutschland eine große Umstellung war. „Wenn du in der Ukraine etwas vom Amt willst, dann gehst du einfach hin. Du brauchst nicht einmal einen Termin.“

Die Wartezeit, bis die fünfköpfige Familie zum ersten Mal einen Geldcheck bekam, bezeichnet Olha als „kritische Situation“. Eineinhalb Monate lebte ihre Familie schon in Deutschland, das Ersparte war längst aufgebraucht. „Das Einkommen in der Ukraine ist nicht hoch, deshalb können die meisten wenig zurücklegen“, erklärt Olha. Erschwerend kommt hinzu, dass die Familie vor einiger Zeit ein Haus kaufte, das sie seitdem abbezahlen müssen. „Wir haben nicht damit gerechnet, eines Tages aufzuwachen und in unserem Land herrscht Krieg.“ Ohne die Hilfe von Henning Scheffen und seiner Familie wäre es finanziell eng geworden. Doch ohne zu zögern stellte er die Wohnung seiner verstorbenen Mutter zur Verfügung. „Wir hätten auch auf dem Boden im Flur geschlafen“, sagt Olha.

Stattdessen fand sich die Familie in einer eingerichteten Wohnung wieder, inklusive eines gefüllten Kühlschranks. Sogar ein Heimtrainer befindet sich unter den Spenden, auf dem sich Tochter Arina gerne etwas auspowert. Bei der Erinnerung an die große Welle der Hilfsbereitschaft kommen Olha die Tränen. Es ist ihr unangenehm, sie entschuldigt sich. Mehrere Monate musste die junge Mutter einfach nur funktionieren, stark sein für ihre Kinder. „Ich war wie ein Roboter, der eine Liste hatte, die er abarbeiten muss: Dokumente beantragen, Bankkonto eröffnen, Schule organisieren“, erinnert sie sich. Seit ein paar Wochen gesteht es sich Olha auch zu, etwas mehr zu entspannen und zu leben. Sie schlenderte schon ein paar Mal durch Hannovers Straßen und genoss einfach nur die Sonne auf ihrer Haut. „Die Hilfe der Deutschen ist mehr als genug. Nicht einmal Verwandte würden so viel für einen tun. Eine Freundin von mir hat einmal gesagt: Das Beste an Deutschland sind die Deutschen. Das passt.“

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Seit Anfang Juni haben sich die Zuständigkeiten noch einmal geändert. Statt der Ausländerbehörden ist nun das Jobcenter für die Geflüchteten zuständig. Noch laufe allerdings nicht alles reibungslos. So weiß Olha von einigen Geflüchteten, dass eine automatische Zustellung ans Jobcenter nicht möglich sei und sich stattdessen jeder selbst darum kümmern müsse. Olha und ihre Familie nahmen bereits im Mai Kontakt mit der Einrichtung auf, weil sie wissen wollten, wie es weitergeht. Vor Ort bekamen sie Unterstützung von einer „wundervollen Frau“, die ihnen auf Russisch beim Ausfüllen einiger Dokumente helfen konnte. „Wir wollten so schnell wie möglich einen Job haben. Für immer können wir nicht in Hennings Wohnung bleiben, zumindest nicht, wenn wir keine Miete bezahlen können.“ Aktuell wartet die Familie auf einen Termin mit einem Sachbearbeiter, der bei der Integration ins Berufsleben helfen soll. „Ich hoffe, dass mein Diplom anerkannt wird oder zumindest Teile und ich dann einige zusätzliche Kurse besuchen kann“, sagt Olha.

Neuen Schwung in den Alltagstrott brachte der Deutschkurs. Seit zwei Wochen haben Olha und ihr Lebensgefährte Khalid eine Aufgabe, es geht voran. „Seit Tag eins habe ich versucht selbst Deutsch zu lernen durch Apps und Online-Kurse. Bei vielen Kursteilnehmern ist es ähnlich“, sagt Olha. Von 8.30 bis 12.45 Uhr lernt sie zusammen mit rund 20 ukrainischen Geflüchteten Deutsch, am Nachmittag ist dann ihr Mann an der Reihe. „Die deutsche Sprache ist nicht leicht. Ich hoffe, dass ich den Sprachkurs bald mit einem Nebenjob kombinieren kann, um so auch mehr Praxis zu haben“, sagt Khalid. Natalia kann erst einen Kurs besuchen, wenn ihre Tochter Olha fertig ist. „Sie muss zu Hause auf Sara aufpassen. Die ist mit ihren neun Monaten noch zu jung für den Kindergarten.“ Währenddessen ist die achtjährige Arina in der Schule.

Mit der Hilfe von Henning Scheffen wurde sie direkt bei der Glocksee-Schule in Hannover angemeldet. „Ihre Klasse ist ständig draußen und die Kinder bekommen viel Bewegung“, schwärmt Olha. In der Ukraine hätten bereits die Erstklässler Uniform anziehen müssen, die Haare offen zu tragen sei streng verboten gewesen. Auch die Klassen waren um einiges größer, im Schnitt 35 Schüler und eine Lehrerin. Der Unterricht war streng, diszipliniert, die Kinder mussten immer die Arme auf den Tisch legen. „Für meine Tochter ist ihre deutsche Schule der Himmel auf Erden. Endlich kann sie wieder strahlen. Ich würde mir wünschen, dass bei uns in der Ukraine die Schule auch weniger Druck auf die Kinder ausübt.“

Olha hat unserer Redakteurin Audrey-Lynn Struck von ihren Sorgen berichtet | Foto: Struck

Nach wie vor gibt es einiges zu regeln, Olhas Ordner dürfte also schon bald wieder voller werden. In ein paar Monaten müssen sie und Khalid ihren Führerschein noch einmal in Deutschland nach machen. Die Frage nach der Kostenübernahme ist bisher noch nicht geklärt. „Vielleicht müssen wir dafür einen Kredit aufnehmen? Wenn man uns denn überhaupt einen gibt, wo wir noch keine Arbeit haben“, fragt sich die Ukrainerin. Oder wird Khalid bis dahin einen Nebenjob gefunden haben? Und wie geht es weiter mit dem Krieg in ihrer Heimat? Trotz der vielen Ungewissheiten blicken Olha und ihre Familie ganz positiv in die Zukunft: „Wir möchten Deutsch sprechen, Arbeiten und unabhängig sein und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Ich weiß wir können mehr.“