Prof. Timo Rademacher hat die Juniorprofessur für Öffentliches Recht und das „Recht der neuen Technologien“ an der Leibniz Universität Hannover inne. Er ist Experte für die Frage, in welchen Grenzen der Staat Daten sammeln kann und darf. Im Rundblick-Interview spricht er mit Niklas Kleinwächter über die Pläne der Bundesregierung, Handy-Daten zu nutzen, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Dabei warnt er vor voreiligen Rufen nach einer Änderung der Verfassung.

Prof. Timo Rademacher | Foto: Peter Himsel/Die Junge Akademie

Rundblick: Prof. Rademacher, vor ein paar Wochen saßen wir bereits zusammen und sprachen über die Frage, ob der Staat künstliche Intelligenz zur Verbrechensbekämpfung einsetzen sollte. Damals war die Debatte noch verhältnismäßig abstrakt. Nun wird die Frage, was der Staat mit unseren Daten anfangen darf, plötzlich ganz konkret. Wie hat sich die Debatte verändert?

Prof. Rademacher: Das letzte Mal sprachen wir über rote Ampeln und ob wir wollen, dass der Staat uns daran hindern darf, die Straße zu überqueren, wenn es verboten ist. Jetzt sind wir in einer pandemischen Situation und diskutieren über ein Maß an Überwachung, das wir damals in jedem Fall abgelehnt hätten.


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Rundblick: Es geht um das sogenannte Handy-Tracking – die Nutzung von Smartphone-Daten, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Wie genau funktioniert das überhaupt?

Prof. Rademacher: Da muss man zunächst unterscheiden, denn es gibt nicht die eine Form des Handy-Tracking. Anfangs wurde diskutiert, dass die Telekom aggregierte Nutzerdaten an das Robert-Koch-Institut liefert. Dabei handelte es sich um anonymisierte Daten und es ging zunächst nur darum, die Bewegungsströme von Menschen messen zu können. Es ging um ein wissenschaftliches Monitoring der Maßnahmen, um zu schauen, ob sich die Bevölkerung an die Beschränkungen hält. Rechtlich war das unproblematisch und auch gesellschaftlich ziemlich schnell akzeptiert. Auf der anderen Seite der Skala steht China. Dort muss sich jeder eine von zwei möglichen Apps auf seinem Smartphone installieren und regelmäßig Informationen über den eigenen Gesundheitszustand eingeben. Der Staat kombiniert dann solche Gesundheits- und Bewegungsdaten mit Bildern von Überwachungskameras und anderen Daten. Auch in Südkorea wurde so vorgegangen, um auch ein rechtsstaatliches Land zu nennen.

„Die Datenschutz-Grundverordnung der EU erlaubt auch den Zwang zur Offenbarung gesundheitlicher Daten gegenüber staatlichen Stellen, unter anderem ausdrücklich für grenzüberschreitende gesundheitliche Gefahren.“

Rundblick: Und wo befindet sich der nun gewählte deutsche Weg auf dieser Skala?

Prof. Rademacher: Bei der Anwendung, die vom RKI und dem Heinrich-Hertz-Institut entwickelt wird, werden keine individuellen Bewegungsdaten verwendet, sondern Bluetooth-Kontakte. Die Bluetooth-Technik funktioniert nur auf wenige Meter Entfernung und die App speichert alle Kontakte, die so über die vergangenen Tage erreicht wurden. Gibt nun ein Nutzer an, dass er sich mit dem Corona-Virus infiziert hat, werden alle Kontakte der letzten Tage mit Push-Nachrichten darüber informiert – natürlich anonym oder zumindest pseudonymisiert. Nach geltendem Datenschutzrecht ist das zulässig. Zumal die App aktuell ja nur auf freiwilliger Basis angewendet werden soll. Doch auch sonst wäre der Gesetzgeber dazu in der Lage, eine Ermächtigungsgrundlage zu schaffen. Es gab zwar Einwände des Bundesdatenschutzbeauftragten, der sagte, für die Verwendung medizinischer Daten bräuchte man immer die Einwilligung des Betroffenen. Aber die Datenschutz-Grundverordnung der EU erlaubt auch die zwangsweise Nutzung beziehungsweise den Zwang zur Offenbarung gesundheitlicher Daten gegenüber staatlichen Stellen, unter anderem ausdrücklich für grenzüberschreitende gesundheitliche Gefahren. Bei dieser Ausnahme hat man vermutlich genau an eine Pandemie gedacht.

Rundblick: Wenn die App nun nur auf freiwilliger Basis angewendet wird, setzt sie natürlich viel Vertrauen des Einzelnen in seine Mitmenschen voraus.

Prof. Rademacher: Das ist richtig, aber ich denke, dass ist hier der richtige Weg. In China funktioniert die Variante mit Zwang so gut, weil die Leute es gewohnt sind, bei so etwas mitzumachen, sich Zwang zu beugen. Die Deutschen sind das nicht beziehungsweise nur in viel geringerem Umfang gewohnt. Ein Instrument, das auf Freiwilligkeit beruht, mag hier deshalb besser funktionieren. Wir gehen im Prinzip einen Tauschhandel ein: Ich biete meine Daten gegen die Möglichkeit, über einen Risiko-Kontakt informiert zu werden. Es ist auf jeden Fall wert, das zu versuchen.

Das Recht gibt letztlich keine abschließende Antwort, es sagt nur: Wägt diese beiden Punkte, diese beiden Wege und die damit verbundenen Konsequenzen ordentlich ab.

Rundblick: Die Datenschutz-Grundverordnung der EU mag ein solches Vorgehen erlauben, aber wie ist es mit unserem Grundgesetz? In Deutschland ist der Datenschutz historisch bedingt ja quasi ein Verfassungsrecht.

Prof. Rademacher: Natürlich kommen wir bei dieser Debatte raus aus dem einfachen Datenschutz und gehen rein in die Verfassung. Wir haben hier eine extreme Abwägungslage vor uns. Ist es besser, die gesamte Bevölkerung zu isolieren und das öffentliche Leben herunterzufahren? Oder ist es besser, alle zu überwachen und dann nur gezielt die Gefährdeten zu isolieren? Aus rechtlicher Sicht kann durchaus argumentiert werden, dass durch den zweiten Weg der Eingriff insgesamt gemindert wird, und dass dieses Vorgehen deshalb vorzugswürdig ist – immer vorausgesetzt, dass dieser Weg aus medizinisch-epidemiologischer Sicht ein geeignetes Mittel ist, die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und damit am Ende Menschenleben zu bewahren. Das Recht gibt also letztlich keine abschließende Antwort, es sagt nur: Wägt diese beiden Punkte, diese beiden Wege und die damit verbundenen Konsequenzen ordentlich ab. Die politischen Entscheider müssen bei dieser Abwägung in einem Zustand großer medizinischer, sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit agieren. Ich erlebe zurzeit, dass versucht wird, dennoch sehr schnell rechtliche Pflöcke einzuschlagen, wo eigentlich die Politik gefragt ist. Es gibt viele verfassungs-rechtswissenschaftliche Einschätzungen, die schnell zur Wirksamkeit von medizinischen Maßnahmen getroffen werden. Da mahne ich zur Vorsicht! Von vorn herein zu sagen, dass zum Beispiel das verpflichtende Handy-Tracking nicht geht, entspricht hier nicht der Rechtslage. Auch beim Handy-Tracking haben wir einen großen politischen Spielraum.