Die gute Nachricht lautet: Der von manchen als „Störaktion“ bezeichnete Angriff der Umweltschutzorganisation „Greenpeace“ auf das Dach und die Fassade des Landtagsgebäudes am 3. Mai bleibt nicht ohne Folgen. Eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs ist gestellt, das Parlament und die Polizei reden über ein besseres Sicherungskonzept. Die Forderung nach der Rückkehr der Bannmeile wird laut. Die schlechte Nachricht aber folgt sogleich: Dies bringt alles nicht viel, wenn ein wichtiger Teil des Problems nicht außerhalb des Landtags bei den verschieden kreativen Demonstrantengruppen liegt, sondern innerhalb – bei den Abgeordneten selbst.

Foto: Kleinwächter

Der alte Konsens im Landtag nämlich, der selbst zu Zeiten akzeptiert wurde, als es linksaußen eine Fraktion gab (die Linke) oder am rechten Rand (die AfD), geht in die Brüche. Es war der Respekt vor dem „hohen Hause“, wie das Parlament gern genannt wurde. Der Landtag sollte ein Ort sein, an dem die Volksvertreter den freien Meinungsaustausch pflegen sollten, und zwar durchaus hart und polemisch in der Form, aber stets konstruktiv bezogen auf die Sache. Spätestens nach den Erfahrungen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich wurde stets ein Grundsatz hervorgehoben: Die Debatten im Parlament mussten frei von Beeinflussung sein, frei von psychischem Druck und frei von Versuchen der Einschüchterung.

Als der Reichstag vor gut 90 Jahren über Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ abstimmte, erschienen NSDAP-Abgeordnete in SA-Uniformen, der Plenarsaal war mit Hakenkreuzen geschmückt, die ganze Szenerie wirkte erdrückend. Auch als Kontrast zu diesem Tiefpunkt des deutschen Parlamentarismus gilt in den Parlamenten der Bundesrepublik die sinnvolle Regel, dass Abgeordnete und Besucher in keiner Weise ihre politischen Bekenntnisse zur Schau tragen, dass keine Transparente entrollt, Parolen gerufen oder Parteifahnen geschwenkt werden dürfen. Das alles geschieht zum Schutz des freien Wortes, zum Schutz jedes einzelnen Abgeordneten, der sich irgendwann als Minderheit einer erdrückenden Mehrheit gegenübergestellt sehen könnte. Und in einer solchen Situation soll er sich in einer Umgebung befinden, die frei von Pressionen ist.

„Physischen Druck hat Greenpeace nicht ausgeübt, das scheint klar, psychischen hingegen umso stärker.“

Klaus Wallbaum

Nun kann man einwenden, dass Greenpeace ja nur draußen aktiv war – auch wenn die Abgeordneten von ihren Sitzen aus stundenlang durch die Fenster auf zwei Plakate und einen Greenpeace-Kletterer schauen mussten. Außerdem blieben die Debatten sachbezogen, die Tagesordnung wurde wie üblich abgewickelt. Das stimmt. Wenn aber der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Wiard Siebels im Plenum behauptete: „Die Debatten hier sind zu keinem Zeitpunkt von der Aktion draußen beeinflusst worden“, dann irrt er gewaltig.

Vielleicht traten die Greenpeace-Aktivisten auf die Politiker nicht sichtbar einschüchternd und bedrohend auf, doch ihr Vorgehen hat die Landtagsarbeit dennoch den ganzen Tag gestört – und sei es nur auf die Art, dass der Protest alle politischen Diskussionen des Tages dominierte, ja sogar bestimmte. Das war ja offenkundig auch die Absicht der Protestierenden gewesen. Das Ziel einer freien und offenen, unberührt von äußeren Ereignissen verlaufenden Debatte verträgt sich allerdings auch nicht mit einer solchen, eher subtilen Art der Beeinflussung. Physischen Druck hat Greenpeace nicht ausgeübt, das scheint klar, psychischen hingegen umso stärker.

Olaf Lies suchte am 3. Mai das Gespräch mit den Aktivisten und lud zwei zum Kaffee in den Landtag ein. | Foto: Kleinwächter

Teile des Parlaments sympathisierten mit Greenpeace-Aktion

Das eigentliche Problem dieses 3. Mai 2023 im Landtag von Hannover liegt allerdings noch tiefer. Die Greenpeace-Aktion wäre sicher nur als kleine Episode dieses Jahres vermerkt worden, wenn sie auf klare und unmissverständliche Ablehnung aller Demokraten gestoßen wäre. Das war aber nicht so. Das Wort „Hausfriedensbruch“ wurde von der Landtagsverwaltung offiziell erst nach Stunden verbreitet, eine klare und eindeutige Distanzierung gab es am Morgen des Tages noch nicht, auch nicht von der Landtagspräsidentin. Übrigens ist „Hausfriedensbruch“ ja eine Untertreibung. Es geht ja nicht bloß um das Eindringen in den Besitz eines anderen, hier des Staates, sondern es geht darüber hinaus um einen Eingriff in die Arbeit eines Verfassungsorgans – damit um einen Angriff auf die Institutionen der parlamentarischen Demokratie.

Da fragt man sich, warum sich der Landtag am 3. Mai so schwer tat, diesen Angriff schroff zurückzuweisen. Die Antwort ist: Ein nicht unerheblicher Teil des Parlamentes, vor allem der rot-grünen Koalition, sympathisierte sogar mit der Greenpeace-Aktion. Ein anderer Teil war bemüht, die Ereignisse herunterzuspielen. Von einer „friedlichen und legitimen Protestform“ sprach Landtagsvizepräsidentin Meta Janssen-Kucz von den Grünen. Derartige Aktionen seien „sogar notwendig“, wenn man auf die Gefahren der Erdgasförderung im Wattenmeer (gegen die sich Greenpeace richtete) aufmerksam machen wolle. Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Bajus erklärte, der Anlass des Protestes werde doch von der breiten Mehrheit geteilt.

Abgeordnete unterscheiden zwischen „guten“ und „schlechten“ Demonstranten

Zwei Aspekte sind an diesen verständnisvollen Äußerungen zu der Protestaktion interessant: Erstens scheinen sie unterteilen zu wollen zwischen „guten“ und „schlechten“ Demonstranten, die dem Parlament auf die Pelle rücken – gut sind sie dann, wenn die eigene Meinung gestützt wird, und schlecht, wenn das nicht der Fall ist. Unvorstellbar sind derlei Sympathiebekundungen von Grünen-Politiker nämlich, sollte ein derartiger Protest von Rechtsextremisten und nicht von Greenpeace ausgehen. Zweitens wird mit dem Hinweis auf die „breite Mehrheit“, die den Protest teile, das nächste Problemfeld eröffnet: Sollen derlei Einschüchterungen oder Druck-Ausübungen auf das Parlament also gestattet sein, wenn das Anliegen von einer übergroßen Mehrheit geteilt wird, also quasi „common sense“ ist?



Eine solche Sichtweise ist gefährlich, da der Sinn des Parlamentes als Schutzraum des freien Diskurses vor allem ein Minderheitenrecht ist. Es sollen in erster Linie diejenigen Abgeordneten und Fraktionen in ihrem Recht des offenen Wortes geschützt werden, die eben nicht auf einer populistischen Welle der breiten Mehrheit getragen werden. Horst Milde, der kürzlich verstorbene Landtagspräsident, für den gerade ein Kondolenzbuch im Landtag ausliegt, würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er mitbekommen würde, wie verzerrt einige seiner Nach-Nachfolger im Landtag an diesem 3. Mai 2023 die Würde des Parlamentes eingeschätzt und bewertet haben.

„Dass einige Abgeordnete offenbar bereit sind, bei der Beurteilung von Angriffen auf den Landtag mit zweierlei Maß zu messen, ist ein erschreckender Befund dieser Tage.“

Klaus Wallbaum

Noch ein Wort zu den Minderheitenrechten und zum Wert des freien Wortes: Dass einige Abgeordnete offenbar bereit sind, bei der Beurteilung von Angriffen auf den Landtag mit zweierlei Maß zu messen und den Zweck der Demonstration über das Mittel zu stellen, ist ein erschreckender Befund dieser Tage. Ein zweiter ist die Unsitte, die zunehmend Einzug hält in die Sitzungsleitungen einiger Landtagsvizepräsidenten: Immer wieder fällt auf, dass die Reden und Auftritte von AfD-Politikern im Plenum häufig gerügt werden – auch dann, wenn der behauptete Verstoß gegen parlamentarische Bräuche nicht oder zumindest nicht eindeutig vorliegt.



Gegenüber Rednern von SPD, CDU und Grünen hingegen herrscht dann oft Großzügigkeit, die der AfD nicht zuteil wird. Nun kommt es vor, dass auch Mitglieder des Landtagspräsidiums mal einen besseren und mal einen schlechteren Tag haben. Eine Häufung von derlei Vorfällen indes ist brandgefährlich. Denn einmal mehr wird dadurch das Ideal des Parlamentes als Ort der freien und offenen Debatte, in dem jeder seine Argumente vortragen und begründen kann, verletzt. Die Gegner des Parlamentarismus, die weltweit auf dem Vormarsch zu sein scheinen, werden sich darüber sicher freuen.

Ob eine Bannmeile davor schützen kann, dass demnächst wieder eine radikale Gruppe den Landtag besetzt und die Fassade mit politischen Parolen verziert? Vielleicht schon, aber eines kann sie mit Sicherheit nicht: den alten Konsens zwischen allen politischen Lagern über den Respekt vor dem hohen Haus des Parlamentes wieder herstellen. Eine Bannmeile gegen unparlamentarisches Verhalten, die sich wirksam nach innen richtet, gibt es nämlich nicht.