Olha und ihre Familie sind aus der Ukraine nach Hannover geflüchtet. | Foto: Struck

„Ich habe alle Erfolge freigeschaltet. Mir fehlt nur noch einer“, erzählt Olha stolz, während sie durch ihre Sprachlernapp scrollt, die ihren Fortschritt beim Deutschlernen misst. 140 Tage hat sie bereits am Stück gelernt, ab 180 Tagen werden weitere Auszeichnungen vergeben. Das motiviert. Dabei kann Olhas Motivation, Deutsch zu lernen, kaum noch gesteigert werden. Nur so kann die Ukrainerin einen Job bekommen und sich mit ihrer Familie eine neue Zukunft in Deutschland aufbauen. „Wir haben entschieden alles zu tun, was wir können. Nicht nur rumzusitzen, sondern zu arbeiten, Geld zu verdienen und wieder ein normales Leben zu führen“, sagt Olha.

Mehr als ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass die junge Mutter mit ihrem Lebensgefährten Khalid, ihrer Mutter Natalia, ihren beiden Töchtern und Hund und Katze aus der ukrainischen Stadt Kropywnyzkyj (Kirovohrad) geflohen ist. Am Anfang versuchte sie nur zu funktionieren – für ihre Kinder Arina und Sara. „Ich war wie ein Roboter“, erzählte sie mir noch Ende Juni. Mittlerweile sind fast alle Anträge durch, die Familie hat einen neuen Alltag, eine neue Tagesroutine. Morgens bringt Olha ihre Tochter Arina in die Grundschule, dann gehen sie und ihr Mann zum Deutschsprachkurs. Nachmittags heißt es dann einkaufen, kochen, Hausaufgaben machen, mit dem Hund Gassi gehen und sich um die Kinder kümmern.

Jede freie Minute wird fürs Deutschlernen genutzt – selbst beim Stillen hat Olha ihre Sprachlernapp an. „Manchmal verpasse ich den Bus, weil ich noch an der Haltestelle sitze und das ganze Gelernte vom Sprachkurs im Kopf durchgehe und verarbeite.“ Einen Arzttermin ausmachen, eine Busfahrkarte kaufen oder einkaufen gehen: Olha kann sich schon ein bisschen auf Deutsch verständigen. Jede Möglichkeit wird genutzt, die Sprache weiter zu üben. Sie weiß: Eine andere Sprache lernt man am besten durchs sprechen. In der Schule ihrer Tochter Arina können die Eltern einmal im Monat in der Kantine mithelfen. Schnell kam die Ukrainerin dort mit anderen Müttern ins Gespräch, mit denen sie ihr Deutsch üben konnte. „Manchmal habe ich Sorge, dass mir die Person gegenüber gerade einen großen Gefallen tut, indem sie mit mir Deutsch spricht – und insgeheim darunter leidet, mich reden zu hören“, gesteht Olha und meint, mit eigenen Fortschritten noch zu langsam zu sein. Vor allem ihr „hässlicher Akzent“ stört sie. „Wenn ich andere Deutsche reden höre, klingt es wie eine Melodie. Ich höre mich hingegen noch an wie ein bellender Hund.“  

Olha lernt Deutsch so oft es nur geht. | Foto: Struck

Mitte Februar ist die Prüfung. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen muss Olha ihre Deutschkenntnisse im Schreiben, Lesen, Hören und Reden unter Beweis stellen. Aufgeregt sei sie bisher nicht. „Ich weiß, was mich erwartet und dass ich mich so gut es geht vorbereiten muss, um zu bestehen. Die Wörter müssen im Kopf abrufbar sein“, sagt die 37-Jährige. Je nachdem, wie gut sie sich schlägt, wird sie in den nächsten Deutschkurs auf A2-Niveau oder – ihr persönliches Ziel – auf B1-Niveau versetzt. Erst ab einem Sprachniveau von B1 könne sie Jobs im Einzelhandel oder in der Pflege übernehmen. Für viele weitere Jobs wie zum Beispiel im Kindergarten brauche sie sogar B2 oder höher, habe ihr das Jobcenter erklärt. Der Ton sei mit der Zeit in der Behörde rauer geworden. Neulich habe eine Sachbearbeiterin im Jobcenter zu ihr gesagt: „Wir sind hier nicht dafür da, ihre Träume wahr werden zu lassen.“ Dieser Satz hat sich in Olhas Gedächtnis eingebrannt.

Ihren Traum, später einmal als Englischlehrerin in Deutschland zu arbeiten, hat sie seitdem praktisch aufgegeben. Zumal man ihr beim Jobcenter erklärt hätte, dass für die Arbeit als Lehrerin Englisch ihre Muttersprache sein müsste. „Vielleicht habe ich es aber auch falsch verstanden“, schiebt Olha schnell hinterher. Sie möchte nicht undankbar erscheinen. „Die Regierung unterstützt uns mit Geld, dafür sollen wir aber möglichst schnell arbeiten“, sagt Olha. In jedem Satz schwingt ihre Dankbarkeit, ihr Respekt gegenüber dem deutschen Staat mit, vermengt mit der leisen Sorge vor dem Jobcenter, vor der Zukunft. „Wenn eine Person die Deutschprüfung nicht besteht, sieht das Jobcenter, dass sie nicht motiviert ist und sich nicht integrieren will“, ist sich die Ukrainerin sicher. Umso wichtiger ist es für Olha, mit einem guten Ergebnis in der Sprachprüfung zu zeigen: Sie möchte sich integrieren, ein Teil der Gesellschaft werden und Deutschland etwas zurückgeben. Geschichten von Landsleuten, die sich bei mehreren Jobcentern registrieren lassen um mehrfach Geld zu kassieren, machen die junge Mutter deshalb in vielerlei Hinsicht unglaublich wütend. „Das ist eine Schande für andere Ukrainerinnen wie mich“, sagt Olha. 

Olha im Gespräch mit Rundblick-Redakteurin Audrey-Lynn Struck.

Eine Herausforderung sind momentan die Kosten. Seit knapp fünf Monaten bekommt Natalia, Olhas Mutter, kein Geld ausbezahlt. Der Grund: ein Fehler bei den Zuständigkeiten. Im Juni wechselten die geflüchteten Ukrainer eigentlich vom Asylbewerberleistungsgesetz in die Grundsicherung, vom Sozialamt zum Jobcenter. Nur für Erwerbsunfähige und Rentner blieb das Sozialamt verantwortlich. Darunter hätte auch Olhas Mutter fallen müssen, die jedoch aus Versehen ebenfalls ans Jobcenter überwiesen wurde. „Dort hieß es dann, dass sie wieder zurück zum Sozialamt muss, weil sie zu alt ist“, erklärt Olha. Im Sozialamt selbst hätten sie dann erst wieder neue Papiere einreichen müssen und seien von einem Sachbearbeiter zum nächsten geschickt worden. „Es ist gut, dass wir zusammen sind und uns gegenseitig helfen. Wenn sie alleine wäre, wüsste ich nicht, wie sie das ohne Geld machen soll.“ Ab nächstem Jahr soll dann Natalia ebenfalls Deutsch lernen, wenn der Anfängerkurs nicht nur morgens, sondern auch nachmittags angeboten wird. Bisher bleibt Olhas Mutter zu Hause und kümmert sich um die eineinhalb Jahre alte Sara, während Khalid und Olha vormittags beim Sprachkurs sind. Ganz auf das Deutschlernen verzichten möchte Natalia aber nicht. Sie lernt schon jetzt wie ihre Tochter mit einer Sprachlernapp übers Handy. Langfristig könnte die Organisation noch leichter werden, wenn Sara in den Kindergarten kommt. Die Anmeldebögen hat sich Olha bereits von einer Freundin organisiert, sie weiß, wie lange man häufig in Deutschland auf einen Platz warten muss. 

Sara soll bald in den Kindergarten, Arina fühlt sich wohl in der Schule, Olha hat schon einige Freunde gefunden und möchte bald arbeiten: Möchte die junge Mutter überhaupt wieder zurück in die Ukraine? Die 37-Jährige muss bei dieser Frage nicht lange überlegen: Nein. „Ich sehe keine Möglichkeit, als Mutter mit ihren Kindern wieder zurückzugehen. Erwachsene können mit der Situation vor Ort vielleicht umgehen, aber nicht die Kinder“, sagt Olha. Die „Situation vor Ort“ – das ist die ständige Angst vor einem nächsten Angriff, sind unzählige Bombenalarme pro Tag, regelmäßige Strom-, Wasser-, oder Gasausfälle – und das mitten im Winter. Sie habe Freunde im Sprachkurs, deren Ehemänner in der Ukraine geblieben sind, die langfristig wieder zurückgehen wollen. „Aber meine Familie ist hier. Für meine Kinder ist dieses Leben nicht akzeptabel. Wir wissen nicht, wie lange es geht.“ Dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird, davon ist Olha fest überzeugt. Die Frage ist nur: wann. Durch die Art und Weise, in der sie über ihre alte Heimat spricht, merkt man, wie lange sie sich mit dem Gedanken auseinandergesetzt hat, ob sie zurückgeht. Sie redet mit einem gewissen Abstand, wirkt sehr rational. „Mein Mann hat schon einen Krieg im Sudan erlebt. Er hat gesagt, dass nach dem Krieg in der Ukraine zu viele Waffen weiterhin unkontrolliert im Umlauf sein werden, die die Sicherheit beeinträchtigen“, sagt die Ukrainerin. Außerdem sieht sie schon jetzt an ihren Kindern, wie schnell sie sich in Deutschland einleben. Arina findet Freunde in der Schule, Sara machte ihre ersten Schritte in Deutschland und wird sich an ein Leben in der Ukraine vermutlich später gar nicht mehr erinnern können. „Wir haben alles zurückgelassen und starten hier bei Null. In der Ukraine müssten wir irgendwann wieder bei Null anfangen. Ich sehe wie sehr wir schon nach acht Monaten an Deutschland hängen. Man richtet sich ein, wird irgendwann ein fester Teil der Gesellschaft. Das geht aber nicht ohne die Sprache.“

Am Ende des Interviews nutzten Olha und ihre Mutter deshalb die Gelegenheit, mir noch ein paar Deutschfragen zu stellen. Wenn ich ihre Mutter frage, ob sie ein Foto von uns machen kann, wie kann sie dann antworten? Wann sagt man „sicher“, wann „klar“ und wann „bestimmt“? Neugierig saugen die beiden die neuen Informationen auf. Ich bin mir sicher: Olha wird die Deutschprüfung sehr gut bestehen. Ob sie dann irgendwann doch Englischlehrerin werden kann? Genug offene Stellen wären eigentlich da.

Foto: Struck