Christoph Rabbow, der Vorsitzende des niedersächsischen Philologenverbands, hält nichts von Tablet-Unterricht ab der ersten Klasse. | Foto: Kleinwächter, GettyImages/Lev Dolgachov

Der niedersächsische Philologenverband betrachtet den bildungspolitischen Wahlkampf-Aufschlag der SPD mit Skepsis. Die Sozialdemokraten hatten am Freitag den Plan vorgestellt, ab dem Schuljahr 2024/2025 jedem Schüler zunächst ab der dritten, später womöglich ab der ersten Klasse ein Tablet als schulisches Arbeitswerkzeug zur Verfügung stellen zu wollen. Christoph Rabbow, der neu gewählte Vorsitzende des Philologenverbands, kritisiert diesen Vorschlag nun als „bildungspolitische Augenwischerei“. Er erwarte, dass abgehende Schüler aus der Grundschule mit den Kulturkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen ausgestattet seien. „Tablets ab der ersten Klasse haben weder etwas mit Fortschritt noch mit Bildung zu tun“, monierte Rabbow am Montag vor Journalisten. Dabei betonte er, nicht grundsätzlich gegen den Ausbau der Digitalisierung auch in den Grundschulen zu sein. Diese nütze aber nichts, wenn sie nicht mit einem didaktischen Konzept unterlegt werde.

Division können Grundschüler schon nicht mehr. Es darf nicht sein, dass sie bald auch nicht mehr multiplizieren können.

Christoph Rabbow

Der bloße Einsatz digitaler Medien als methodisches Equipment sei nicht hinreichend, um Lehr- und Lernprozesse zu gestalten und Lernprogression zu erzielen, sagte Rabbow und zeichnete ein dramatisches Bild der aktuellen Lage: „Division können Grundschüler schon nicht mehr. Es darf nicht sein, dass sie bald auch nicht mehr multiplizieren können.“ Sorge bereitet ihm dabei seine Erfahrung mit der Einführung grafikfähiger Taschenrechner. Diese führten allzu häufig dazu, dass Schüler zwar ein korrektes Ergebnis herausbekämen, die Zahl auf dem Display aber gar nicht mehr interpretieren können.

Die für diese Tablet-Strategie veranschlagten 100 Millionen Euro pro Jahr sieht Rabbow an anderer Stelle besser eingesetzt – und zwar bei der Ausbildung neuer Lehrkräfte. „Nach konservativer Schätzung fehlen bis 2030 bundesweit 80.000 Lehrkräfte“, sagte Rabbow. Der Bedarf könne nun durch die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge sogar auf bis zu 95.000 steigen, schätzt er. Für Niedersachsen bedeutete dies, dass jährlich 1500 bis 2000 neue Lehrkräfte ausgebildet werden müssten. „Das wäre zu schaffen, aber es ist ein Kraftakt“, so der Verbandsvorsitzende. Er fordert, die Studienseminare bis zur Kapazitätsgrenze aufzufüllen.

Verband befürchtet Engpässe bei MINT-Lehrern

Besondere Engpässe sieht er im MINT-Bereich kommen, also in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. „In Zukunft könnte nur jede dritte Stelle im naturwissenschaftlichen Bereich durch einen MINT-Lehrer besetzt werden. Zwei Drittel der Stellen müssen Quereinsteiger ausgleichen.“ Ein Problem sei, dass die Konditionen für diejenigen, die Physik oder Chemie studieren, in der freien Wirtschaft einfach deutlich besser seien als im öffentlichen Dienst. Ein anderes Problem erkennt der Verbandschef in der Ausgestaltung der Lehrerausbildung. Inzwischen sei das Referendariat viel zu überfrachtet, findet er. Viele Referendare würden dieses abbrechen, weil das Pensum durch zusätzliche Aufgabenbereiche etwa durch die Inklusion und Bewertungsbögen überladen sei. Rabbow schlägt daher vor, das Referendariat um drei Monate zu strecken. So würden zwar kurzfristig weniger fertig ausgebildete Lehrer bereitstehen, mittelfristig aber vielleicht mehr Anwärter durchhalten und das Referendariat auch abschließen.

Unter www.lms.e-school.net.ua finden Lehrer eine Online-Anwendung für den Unterricht von ukrainischen Schülern. Die Seite ist zwar auf Ukrainisch, lässt sich aber unter „Einstellungen“ ins Deutsche übersetzen. | Foto: Link

Ukrainische Lehrer einbinden: Mit Blick auf die nötige Integration ukrainischer Schüler ins deutsche Bildungssystem warnt Rabbow, es dürfe keine Parallelgesellschaften geben. Es gehe darum, „miteinander und voneinander zu lernen.“ Er selber nutze derzeit eine Online-Anwendung, die ihm eine Kollegin empfohlen habe, mit der er ganz einfach die Bildungsinhalte aus dem ukrainischen Lehrplan auswählen und einsetzen könne. Außerdem spricht er sich für pragmatische Lösungen aus. So sollten etwa aus der Ukraine geflüchtete Lehrkräfte direkt in den Unterricht mit einbezogen werden, wo dies möglich ist.

Verband in Sorge: Abitur um 0,3 Notenpunkte verbessert

Abitur zu leicht? Der Chef des Philologenverbands sorgt sich um das Niveau der Abiturprüfungen. Landesweit sei das Abitur im vergangenen Jahr um 0,3 Notenpunkte besser ausgefallen. Rabbow fordert, dass diese Entwicklung von Experten genau untersucht werden solle. „Nach Corona, spätestens im kommenden Jahr, müssen wir einen kritischen Blick auf die Aufgaben und die Bewertung der Abiturprüfungen werfen“, sagte er. Allerdings wolle er nicht voreilig unterstellen, dass die Maßstäbe gelockert worden seien. Die Verbesserung könne zum Beispiel auch damit erklärt werden, dass die Schüler mehr Zeit denn je für das Lernen aufbringen konnten, da es weniger Ablenkungen durch abgesagte Freizeitaktivitäten gegeben habe. Außerdem könne auch der Schub im Bereich der Digitalisierung förderlich für die Abiturienten gewesen sein.

Der neue Vorsitzende: Christoph Rabbow (54) folgt auf Horst Audritz, der nach 13 Jahren den Vorsitz des niedersächsischen Philologenverbands abgegeben hat. Rabbow unterrichtet am Vincent-Lübeck-Gymnasium in Stade die Fächer Mathematik und Chemie in einer achten und einer dreizehnten Klasse. Künftig möchte er aber vermehrt dort eingesetzt werden, „wo es brennt“ – also in der Mittelstufe, wo es noch zahlreiche Elterngespräche gebe, bei denen man mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommen könne, erzählte er.