Die Justizbehörden kommen hinter der wachsenden Zahl von Sexualstraftaten, gerade auch im Zusammenhang mit Kindern, nicht mehr richtig hinterher. „Die Lage ist dramatisch und mit dem bisherigen Personal nicht mehr zu schaffen“, sagte Oberstaatsanwältin Daniela Hermann am Montag in der Kinderschutz-Enquetekommission des Landtags. Seit Herbst 2018 erlebe man einen Anstieg der Ermittlungsverfahren in diesem Bereich um 500 Prozent. „Eine solch zugespitzte Situation habe ich in den vergangenen 20 Jahren noch nie erlebt“, fügte Hermann hinzu.

Die Staatsanwaltschaft Hannover befasst sich landesweit mit den Ermittlungen bei Kinderpornographie und ähnlichen Taten, und nach Darstellung der Behördenleiterin Katrin Ballnus hatte es zur Bearbeitung dieser Fälle 2019 noch 3,6 Stellen gegeben. Diese sind seither Zug um Zug aufgestockt worden, sodass derzeit etwa zehn Dezernentenstellen dafür zur Verfügung stehen. Doch mit einer weiteren drastischen Steigerung der Verfahren wird gerechnet. Nach Informationen des Politikjournals Rundblick hat das Justizministerium für den Haushaltsplan 2022/2023 beantragt, dass 15 zusätzliche Stellen das Team verstärken sollen – wobei wegen des ausreichenden Angebots an Juristen auf dem Markt die Besetzung nicht schwerfallen dürfte.
Wir gehen davon aus, bald die 10.000-Marke knacken zu können.
„Dem Justizministerium ist die Situation bewusst“, hob Ballnus in der Sitzung der Enquetekommission hervor. Was die Zahl der Strafermittlungen gegen bekannte Täter in Niedersachsen angeht, hat es in den vergangenen Jahren einen steilen Anstieg gegeben: 2016 zählte man noch 1630 Verfahren, 2018 waren es 2600, zwei Jahre später dann mehr als 4500. In diesem Jahr sind bis Ende Mai schon 3990 Verfahren gezählt worden. „Wir gehen davon aus, bald die 10.000-Marke knacken zu können“, erläuterte Oberstaatsanwältin Hermann.
Lesen Sie auch:
Corona macht es den Familienhebammen schwer
SPD und CDU wollen, dass Kindesmissbrauch nicht mehr verjährt
Die Gründe für den erheblichen Zuwachs sind vielschichtig, wie die Vertreterinnen der Staatsanwaltschaft auf Nachfragen von Christian Calderone (CDU), Wiebke Osigus (SPD) und Sebastian Zinke (SPD) erläuterten: Zum einen bekämen die Strafverfolgungsbehörden beständig mehr Informationen aus den USA, da die dortigen Provider verpflichtet sind, beispielsweise Kinderpornographie-Dateien im Netz auch an das Bundeskriminalamt zu melden. Von wenigen 1000 Fällen seien die Mitteilungen aus Amerika auf mittlerweile 70.000 angestiegen.
Außerdem fänden entsprechende Dateien inzwischen über moderne Systeme wie Whatsapp eine sehr viel stärkere Verbreitung auf mehr Teilnehmer. Schließlich kämen verstärkt auch Jugendliche ins Visier, die vermeintlich witzige Kinderporno-Seiten verbreiteten und sich der Strafbarkeit oft gar nicht bewusst seien. Da nun mit dem neuen Netzwerkdurchleitungsgesetz auch die Provider in Deutschland zur Weitergabe von Daten verpflichtet seien, stellt sich die Staatsanwaltschaft Hannover auf zusätzlich mindestens 1200 weitere Verfahren allein in diesem Jahr ein.

Ballnus und Hermann mahnten dazu, die Strafverfolgung zu beschleunigen. Bisher lägen mehr als 500 Verfahren schon länger als neun Monate bei den Justizbehörden, da die Aufarbeitung nicht schnell genug voranschreite. Abschreckende Wirkung könne man aber nur entfalten, wenn die Täter zügig gefasst und verurteilt werden könnten, wenn sie also Angst haben müssten, schon bald nach der Tat entdeckt und bestraft zu werden. Je mehr über Ermittlungserfolge berichtet werde, desto besser sei es. Auch wegen der enorm gestiegenen Datenvolumina und der steigenden Verbindung zu ausländischen Netzwerken werde die Aufklärung aber schwieriger.
Eine späte strafrechtliche Aufarbeitung von Kindesmissbrauch habe auch große Nachteile für die Opfer: Die Gerichte legen Wert auf authentische Schilderung der Taten, eine solche aber steht häufig im Widerspruch zu den Zielen der Therapie. Die Therapeuten suchen ebenfalls das Gespräch mit den Opfern über die Tat, aber weniger zur Erhellung der Vorgänge als vielmehr zu dem Zweck, die psychische Verarbeitung der Geschehnisse zu erleichtern.