Mitte Mai stellt sich der neue Leiter des Referats 35 im Kultusministerium, Frank Stöber, in einem Schreiben den Leitungen der Studienseminare der allgemeinbildenden Schulen vor. Das Referat ist unter anderem für die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte zuständig. Fast dreieinhalb Seiten ist das Schreiben lang, und dafür gibt es einen guten Grund. Denn wenige Tage vorher hat es auf Initiative der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen eine Videokonferenz zwischen Referendaren und Kultusminister Grant Hendrik Tonne gegeben. Die „Lehrer im Vorbereitungsdienst“ machen sich Sorgen, die für lange Zeit geschlossenen Schulen sind für sie zu einem großen Problem geworden.


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Ganz viele Referendare hätten sich an die Gewerkschaft gewandt, weil sie die Situation als sehr belastend wahrgenommen hätten, sagt GEW-Chefin Laura Pooth im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. „Sie konnten den Präsenzunterricht einfach nicht so wahrnehmen, wie es nötig wäre. Man kommt aus dem Studium, freut sich auf die Praxis und bekommt diese Praxis nicht.“ Deshalb habe sich eine Arbeitsgruppe der Betroffenen unter Leitung der „Jungen GEW“ gebildet, um über Möglichkeiten zu sprechen. Die Kernfrage lautet: Wie soll man in der Praxis geprüft werden, wenn man vorher Unterricht im Klassenzimmer vor allem nur aus der Theorie kennt?

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Adrian Knapik ist mittendrin in seinem Referendariat an einem Braunschweiger Gymnasium. Angefangen hat er im August vergangenen Jahres, also nach der ersten Pandemiewelle. Seine Prüfung wird er im Laufe des kommenden Jahres ablegen. Klingt nach noch ganz viel Zeit, aber für ein wenig Unsicherheit sorgt das Unterrichten in der Corona-Krise schon. „Man ist nicht vollends ohne Unterrichtspraxis, aber schon benachteiligt, weil man durch die wechselnden Szenarien weniger Praxiserfahrung hat“, berichtet Knapik. Er ist sicher, dass ein Großteil der aktuellen Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst weniger einüben konnte als die vorigen Jahrgänge. „Das betrifft zum Beispiel sinnvolle Übungen wie Gruppenarbeiten. Das konnte man kaum bis gar nicht erproben.“

Den fehlenden Praxisbezug sieht auch Laura Pooth, vieles konnte nicht gelernt oder eingeübt werden:  „Wie baue ich eine Stunde auf? Wie baue ich ein Verhältnis zu den Schülern auf? Wie finde ich mich im Kollegium zurecht? Das fehlt alles.“ Es sei mit dem Start nach dem Referendariat ohnehin ein Sprung ins kalte Wasser, für die aktuellen Referendare werde es noch einmal schwieriger.

Kultusminister Tonne zeigt Verständnis

Die jungen Lehrkräfte stoßen in ihrem Gespräch im Mai beim Kultusminister auf großes Verständnis. „Keinem Prüfling soll in dieser herausfordernden Zeit ein Nachteil entstehen. Diese Richtung hat der Minister bereits an anderer Stelle bei unseren Schülerinnen und Schülern vorgegeben. Dies gilt auch bei unseren zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern“, macht Stöber danach in seinem Schreiben deutlich. Je nach aktuellem Szenario an der Schule kann die Prüfung auch in einem Kolloquium abgelegt werden, das macht das Kultusministerium im Mai möglich. „Der Prüfungsausschuss klärt, ob und inwiefern die Voraussetzungen für das Prüfungsformat des Kolloquiums gegeben sind“, heißt es in dem Schreiben. Beim Kolloquium wird ein Unterrichtsentwurf vorgestellt und mit dem Prüfungsgremium besprochen. Was fehlt, ist das Feedback der Schüler.

Adrian Knapik meint, die Möglichkeit dieser Form der Prüfung sei auf jeden Fall eine Entlastung, zugleich aber eine sehr trockene Angelegenheit. Auch bei der GEW ist man sich bewusst, dass die Prüfung in diesem Fall sehr theoretisch ausfällt und sich nur schwer beurteilen lässt, ob vor dem Prüfungsgremium gerade eine Lehrerpersönlichkeit steht oder nicht. Andererseits geht es aber auch um Fairness gegenüber den Referendaren. Das macht auch Stöber in seinem Brief an die Studienseminare deutlich. Wenn in einem Fach kein oder lediglich ein Unterrichtsbesuch während der Ausbildung stattgefunden habe, könne nicht davon ausgegangen werden, dass dem Prüfling eine faire Chance gegeben worden wäre, schreibt er.

Freiwillige Fortbildungsangebote könnten helfen

Abseits der Prüfungsfrage hat die Corona-Krise aber auch dazu geführt, dass die neuen Lehrer an den Schulen mit weniger Praxiserfahrung an ihre neuen Schulen kommen werden. Laut Knapik kann man zwar nicht davon ausgehen, dass alle Referendare automatisch Erfahrungslücken haben. Dennoch wäre es seiner Meinung nach sinnvoll, freiwillige Fortbildungsangebote zu schaffen. „Dafür sollte der Raum da sein, um zum Beispiel zu lernen, wie man eine sinnvolle Gruppenarbeitsphase gestaltet und sie auswertet“, sagt er. Auch eine Weiterbildung zum Klassenmanagement könne hilfreich sein, weil viele Lehrkräfte nach dem Referendariat zum ersten Mal eine eigene Klasse übernähmen.

Eigentlich müsste man jetzt sagen: Die Referendare bekommen eine geringere Unterrichtsverpflichtung, um Zeit zu haben, sich intensiver mit der Praxis auseinanderzusetzen.

Die GEW-Vorsitzende Pooth sagt, auch in Nicht-Corona-Zeiten sei der Einstieg mit voller Stundenzahl für eine frisch ausgebildete Lehrkraft schon zu viel verlangt. „Eigentlich müsste man jetzt sagen: Die Referendare bekommen eine geringere Unterrichtsverpflichtung, um Zeit zu haben, sich intensiver mit der Praxis auseinanderzusetzen, zum Beispiel über Fortbildungen.“ Ob das Kultusministerium sich auf diesen Weg einlässt, ist eher unsicher. Denn weniger Unterrichtsverpflichtung kostet Geld. Ein Video-Gespräch mit dem Minister könnte bei diesem Thema etwas schwieriger verlaufen.

Von Martin Brüning