Wer wollte, konnte schon am Morgen des Tages am Versammlungsort die Stimmung ablesen an den Gesichtern. Viele Getreue der bisherigen AfD-Vorsitzenden Dana Guth (50), Landtagsabgeordnete aus Göttingen, wirkten ernst und angestrengt. Sie gingen mit besorgten Gesichtern durch die Reihen. Ihr wichtigster Gegner aber, der Bundestagsabgeordnete Jens Kestner (48) aus Northeim, wirkte gelöst und war zu Scherzen aufgelegt.

Drinnen hatten sich schon früh seine Anhänger die vorderen Sitzreihen gesichert. „Perfekt organisiert“ sei die Kestner-Truppe, hieß es bald, also jene Kräfte, die auch dem früheren Landesvorsitzenden Armin-Paul Hampel aus Uelzen zugerechnet wurden. Sie hatten im Vorfeld effektiv mobilisiert. Kräftiger offenbar als die anderen – denn am Ende gewann Kestner die Wahl und wurde neuer Landesvorsitzender. Allerdings geschah das alles mit einem hauchdünnen Ergebnis, erst nach der Wiederholung der Wahl stand das Resultat fest. Guth, die zwei Jahre lang den AfD-Landesverband geführt hatte, muss jetzt auch um ihr zweites Amt bangen, das der Fraktionsvorsitzenden. Im Oktober steht in der Landtagsfraktion die Neuwahl an, ihre Ablösung auch dort ist wahrscheinlich geworden.

Der Bundestagsabgeordnete Jens Kestner aus Northeim ist neuer AfD-Chef in Niedersachsen – Foto: kw

Der Parteitag im Braunschweiger „Millenium-Event-Center“ entwickelte sich am Sonnabend zum regelrechten Wahlkrimi, in dem über acht Stunden lang nicht absehbar schien, wie das Ergebnis sein würde. Wochen vorher hieß es noch, Guth sei gefestigt. Dann holte Kestner spürbar auf, und zum Start des Parteitages lagen auf den Tischen Flyer auf Hochglanzpapier mit seiner Kampagne. Sie waren sichtlich gut vorbereitet. In den folgenden Stunden gab es mehrfach Situationen, in denen mal die Guth-Anhänger triumphierten, mal die von Kestner – ablesbar stets an den Debatten in der Mitgliederversammlung, zu der 580 AfD-Mitglieder nach Braunschweig gekommen waren.

Es begann mit den Grußworten der beiden Bundessprecher. Der schwäbische Professor Jörg Meuthen, zu dem eher Guth eine Nähe hat, sprach über das notwendige bürgerliche Image der AfD und erntete ordentlichen Applaus. Der zweite Bundessprecher Tino Chrupalla aber, der eine Nähe zum rechtsextremen „Flügel“ hat, reizte einen Teil der Versammlung zu regelrechten Jubelarien. Es war der Teil, der auch zu den Unterstützern von Kestner gehört. Seit vielen Jahren pflegt das Lager von Kestner und Hampel gute Beziehungen zum rechtsextremen Rand der AfD, während Guth seit Monaten versucht, sich im Sinne von Meuthen immer stärker von dieser Richtung abzugrenzen. Und in der Halle in Braunschweig waren beide Gruppen am Sonnabend in etwa gleich stark.

Jubel nach Kestners Wahlsieg – Foto: kw

Chrupalla rief der Versammlung zunächst zu: „Auch die Patrioten und die Sozialromantiker gehören zu unserer Partei“, donnernder Applaus war die Reaktion. Dann fügte der Bundessprecher aus Sachsen noch hinzu, dass er die Nicht-Einladung an den Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland zu diesem niedersächsischen Treffen nicht für richtig hält: „Ich hätte mir gewünscht, dass auch der Kapitän unserer Bundestagsfraktion hier gewesen wäre.“

Tosender Beifall brandete auf, und im Guth-Lager reagierte man betroffen angesichts dieser demonstrativen Kampfbereitschaft der Kestner-Leute. Guth und der Landesvorstand hatten entschieden, Gauland nicht einzuladen, weil man schon genügend Grußworte eingeplant hatte. Für das Kestner-Lager war das ein Affront.

Guth wollte nicht kampflos aufgeben

Wenig später ging es dann um den Rechenschaftsbericht und die bei einem früheren Parteitag verlangte Überprüfung der Finanzgebaren des früheren Vorstandes, der noch von Hampel geleitet worden war. Der vom Landesvorstand bestellte Bericht einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft darüber kostete 80.000 Euro – nach Ansicht der Rechnungsprüfer war das viel zu teuer.

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Doch als einige Mitglieder aus dem Kestner-Lager begannen, daraus einen Vorwurf an Guth zu stricken, reagierte die bisherige Vorsitzende resolut und klar: „Ich habe gedacht, der Krach um diese Frage sei längst erledigt, nun werden die alten Geschichten wieder aufgetischt – obwohl sie den Vorstand in meiner Amtszeit gar nicht betreffen.“ Kräftiger Applaus aus dem Guth-Lager ertönte, und damit war ein anderes Signal gesetzt: Kampflos jedenfalls würde Guth den Platz nicht räumen.

Wir müssen denen zeigen, dass wir uns nicht gefallen lassen, in irgendeine Nazi-Ecke gesteckt zu werden.

Das zeigte sich Stunden später dann auch noch mal bei den Vorstellungsrunden der fünf Kandidaten für den Landesvorsitz. Guth hielt die mit Abstand beste Rede, beklagte sich über die „ehr- und anstandsverletzende Art und Weise“, in der der innerparteiliche Wahlkampf in den vergangenen Wochen gelaufen sei. Die Menschen würden die AfD nicht mögen, daher komme es in Zukunft verstärkt darauf an, Kontakt mit den Leuten zu verstärken. „Wir müssen denen zeigen, dass wir uns nicht gefallen lassen, in irgendeine Nazi-Ecke gesteckt zu werden.“

Auch Kestner stellte sich streitbewusst vor, die AfD müsse „politischer werden“, sie sei „kein Finanzamt“ und müsse „auf die Straße und in die Säle ziehen“, auch Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin müssten angeboten werden. Die Corona-Auflagen, meinte Kestner, seien „von oben angeordnet worden, um uns zu kontrollieren und die Macht der Alt-Parteien zu erhalten“ – obwohl von Corona gar keine große Gefahr ausgehe. Eine Überraschung des Tages war, dass die drei anderen Kandidaten, die sich allesamt als Vermittler zwischen dem Kestner/Hampel- und dem Guth-Lager anpriesen, nur schwache Vorstellungen abgaben und auch nur entsprechend bescheidene Ergebnisse bekamen.

Der eigentliche Wahlakt, der am Abend folgte, entwickelte sich zur Nervenprobe. Im ersten Wahlgang erreichte Kestner 208 Stimmen, Guth 205. Für Christopher Emden waren 70 Mitglieder, für Dietmar Friedhoff 36 und für Stefan Wirtz nur 14.

Dann kam eine Stichwahl, in der für Kestner 254 stimmten und für Guth 250. Da das Quorum bei 264 Stimmen lang, musste der Wahlgang wiederholt werden. Dank der elektronischen Stimmgeräte ging alles ganz flott, im zweiten Durchlauf waren erst 263 für Kestner und 237 für Guth, die wiederholte Stichwahl brachte danach 278 für Kestner und 248 für Guth. Sekunden nach der Bekanntgabe entlud sich die enorme Anspannung der Kestner-Anhänger in frenetischen Jubel, Umarmungen und Gesängen – eine Szene, die so gar nicht zu den strengen Auflagen wie Maskenpflicht und Abstandsgebot passen wollten.

Es droht eine noch tiefere Spaltung

Neuer Landesvorsitzender wird mit Jens Kestner (48) jemand, der in Northeim lebt, Lüftungstechniker gelernt hat, für die Bundeswehr ein Jahr im Kosovo war und seit 2017 im Bundestag im Verteidigungsausschuss sitzt. Früher war er kurze Zeit in der CDU, und nach eigener Darstellung gehört ihm in Northeim ein Bestattungsinstitut („Ich habe Leichen im Keller“) im Nebenerwerb.

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Mit Kestner an der Spitze öffnet sich der niedersächsische AfD-Landesverband dem rechtsextremen „Flügel“. Das drückt sich auch darin aus, dass im Kreis der drei Stellvertreter (Christopher Emden, Stephan Bothe und Uwe Wappler) das bisherige Guth-Lager nicht mehr berücksichtigt wurde. Der an diesem Tag in Braunschweig von vielen Mitgliedern beschworene Versuch, die „Gräben zu überwinden“ und die „Lager zusammenzuführen“ drückt sich in der Kür der engeren Führungsspitze jedenfalls nicht aus. Damit droht wohl eher eine Vertiefung der Spaltung.

Klaus Wallbaum