Die Opposition zeichnet ein düsteres Bild nach 100 Tagen rot-schwarzer Landesregierung. Es gebe „nicht nur eine, sondern zwei Landesregierungen“, spottet Anja Piel, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, gestern zum Auftakt der Aussprache zur jüngsten Regierungserklärung von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) im Landtag. Sicher, SPD und CDU würden auch ergebnisorientiert arbeiten – „aber jeder Partner nur an seinem jeweiligen eigenen Ergebnis“. Noch schärfer wird die Kritik des FDP-Fraktionschefs Stefan Birkner. Die Ausweitung der Ministerialbürokratie um 99 Stellen zeige, dass sich Sozial- und Christdemokraten „den Staat zur Beute“ machten und sich „hemmungslos selbst bedienen“. Der Applaus auf derlei Zuspitzungen bleibt allerdings mager, denn die Opposition ist nun mal klein im Parlament, sie steht einer erdrückenden Mehrheit von SPD und CDU gegenüber.

Aber sind sich die beiden großen Fraktionen nach 100 Tagen wirklich so einig, wie sie es ihre Vertreter in der gestrigen Landtagssitzung vorgegeben haben, zu sein? Der Ministerpräsident betont gleich zu Beginn: „Wir haben gut zueinander gefunden, arbeiten kollegial, ergebnisorientiert und auch gerne zusammen.“ Die Große Koalition, sagt Weil, sei vor den Wahlen „niemandes Ziel gewesen“, dann aber hätten die Parteien „sehr schnell unsere gemeinsame Verantwortung akzeptiert“. Es klingt fast so, als richte er diese Worte auch an alle SPD-Mitglieder in Deutschland, die noch bis zum Wochenende Ja oder Nein zur Großen Koalition auf Bundesebene sagen sollen. Die Botschaft des Regierungschefs lautet, dass Niedersachsen nun – angesichts voller Kassen – „einen großen Sprung nach vorn“ schaffen wolle: Gebührenfreiheit in den Kindergärten, dauerhafte Sicherung von Lehrerstellen, neue Polizisten und eine Initiative für den Breitbandausbau. Nur in Nuancen, mit leichten Andeutungen, geht Weil auf aktuelle Konflikte und Perspektiven ein. Für die Zukunft erwarte er „spürbare Verbesserungen“ der Unterrichtsversorgung. Eine Andeutung für eine Erhöhung der Grundschullehrerbesoldung, nachdem nun zunächst die Schulleiter mindestens A13 bekommen sollen? Im Streit mit den Kommunalverbänden über einen Ausgleich für künftig ausbleibende Elternbeiträge wolle das Land entgegenkommend sein, erklärt Weil, doch „manche der Forderungen der Kommunen werden sich sicher nicht realisieren lassen“.

Doch diese Worte sind Vorgeplänkel, der Streit im Parlament dreht sich vor allem um die 99 neuen Stellen in den Ministerien und der Staatskanzlei. Auch darauf geht Weil ein. Niedersachsen weise bisher „einen besonders bescheidenden administrativen Überbau auf der Landesebene“ auf, die Ausstattung sei „im Ländervergleich weit unterdurchschnittlich“. Damit will er sagen, dass die Ministerien bislang vergleichsweise klein seien. Dann rügt Weil die „kreativen Versuche“ von FDP und Grünen, gegen diese Entscheidung juristisch vorzugehen. Doch die Opposition beeindruckt das wenig. Piel sagt, der Ministerpräsident „weicht Konflikten aus, statt sie zu lösen“, er schütte Streitfragen „mit Geld zu“. In fünf Jahren drohten leere Kassen, ein riesiger Behördenapparat „und am Ende Stillstand“. Birkner meint, Finanzminister Reinhold Hilbers sei zu schwach. „Das wäre mit Peter-Jürgen Schneider alles nicht geschehen, und auch Hartmut Möllring und Heinz Rolfes hätten jeden vom Hof gejagt, der solche Pläne präsentiert hätte.“

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Zum Ausgleich dafür, dass die Staatskanzlei zwei Abteilungen an das neugeschaffene Europaministerium abtrete, werde der Chef Jörg Mielke von B9 auf B10 befördert. „Er ist zuständig für 180 Mitarbeiter und bekommt so viel Geld wie der Generalinspekteur der Bundeswehr, der für 180.000 Soldaten verantwortlich zeichnet.“ Klaus Wichmann (AfD) erklärt, die Landesregierung habe nach 100 Tagen die eigentlichen Probleme nicht angepackt. Das gelte etwa für die Frage, wie man es schaffen könne, für die vielen Lehrerstellen künftig noch geeignete Bewerber zu finden. Die Bilanz der Arbeit fasse er in einem Begriff zusammen: „unauffällig“.

Sowohl SPD-Fraktionsgeschäftsführer Wiard Siebels, der die erkrankte Vorsitzende Johanne Modder vertrat, also auch CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer stärkten dem Ministerpräsidenten den Rücken. Siebels verteidigte nachdrücklich die Beitragsfreiheit für Kindergärten. Wer die Bedeutung dieses Schritts nicht anerkenne, ignoriere die Sorgen und Nöte vieler Eltern. Während der SPD-Sprecher zurückhaltend blieb, nutzte Toepffer die Chance, neue Signale auszusenden. Dabei geschah ihm der Lapsus, sich „als Vorsitzender der SPD…, äh, der CDU-Fraktion“ zu bezeichnen. Toepffer warb für die Einrichtung einer neuen Stelle für die ehrenamtliche Landesbeauftragte für Spätaussiedler, da viele der Betroffenen kritisch zu Flüchtlingen stünden und man dieses Thema „nicht den Leuten auf der ganz rechten Seite überlassen“ dürfte.

Außerdem nannte der CDU-Fraktionschef fünf Punkte, die seine Partei künftig durchsetzen wolle. Erstens solle 2019 mit der Schuldentilgung begonnen werden, eine gründliche Aufgabenkritik sei dafür nötig. Zweitens müssten Lehrer- und Erzieherberuf attraktiver werden. Drittens brauche die Polizei mehr Kompetenzen im Vorgehen gegen Gefährder und Terroristen, viertens müsse die Landesregierung „in Brüssel und Berlin stärker präsent“ sein. Und fünftens dürfe die Politik „nicht die Augen verschließen davor, dass die Kosten für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stark angestiegen sind“. Man dürfe das Thema nicht „aus Angst vor Beifall aus der falschen Ecke“ verschweigen. Kaum hat Toepffer das gesagt, da klatscht die AfD-Fraktion Applaus. Zum Thema AfD fügte er, gerichtet an die Grünen, hinzu: „Wir müssen uns Gedanken machen, warum diese Leute hier im Landtag sitzen – weil bestimmte Probleme in der Gesellschaft zu oft oder weil sie nicht angesprochen worden sind?“ (kw)