Artikel 5: Die Pressefreiheit garantiert noch keine öffentliche Kontrolle
Der Satz klingt eindrucksvoll und gut. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Das ist der erste Absatz des Grundgesetz-Artikels 5, überschrieben mit „Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft“. Der Kerngedanke lautet: Medien dürfen sich frei entfalten, über alles schreiben und alle Meinungen vertreten – sofern nicht andere in ihren Rechten beeinträchtigt werden. Jeder Bürger soll auch Zugang zu allen Medien haben. Das Verbot der Zensur legt fest, dass der Staat keine Medien verbieten und so Kritik an der Regierung unterbinden darf. Diese Formulierung war 1949 ideal, sie galt in den ersten 70 Jahren noch uneingeschränkt. „Die Medien“, das waren damals größere und kleinere Tageszeitungen, die Magazine, der öffentlich-rechtliche Rundfunk und das Fernsehen. Es waren allesamt Unternehmen, die einen – mehr oder weniger ausgeprägten – journalistischen Anspruch hatten.
Die übergroße Mehrheit von ihnen wollte Nachrichten verbreiten, die gut recherchiert waren und nicht auf bloßen Mutmaßungen beruhten, sondern deren Wahrheitsgehalt vor der Veröffentlichung nachgeprüft werden musste. Propaganda-Medien gab es schon auch, aber ein breites Spektrum an seriösen Medien drängte diese an den Rand, sie waren unwichtig. Die Stärke der Großen bestand auf ihrer Verbreitung, die meisten Bürger bezogen eine Tageszeitung und schauten abends die „Tagesschau“ oder „heute“. Wenn von der „vierten Gewalt“ gesprochen wurde, dann darüber, dass diese auflagen- und verbreitungsstarken Medien beim Aufdecken von Skandalen eine wichtige Rolle hatten. Weil man sie nicht übergehen konnte, führten die bei ihnen groß berichteten Verfehlungen auch zwingend zu politischen Konsequenzen. Die Medien hatten die Autorität, politischen Machtmissbrauch anzuprangern und damit zu beenden. Denn die Politiker hatten keine Chance, die Berichterstattung einfach zu ignorieren.
Das ist heute in der Bundesrepublik noch so, wir haben noch eine starke Medienlandschaft. Aber sie bröckelt. Tageszeitungen sterben aus, die Autorität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks leidet, „Social Media“ macht sich breiter. Das heißt: Es tummeln sich zunehmend mehr Akteure, die Nachrichten in einer Gesellschaft von jeweils Gleichgesinnten verbreiten und damit Stimmung erzeugen. Der hohe Anspruch einer Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Botschaften, das Handwerkszeug gut ausgebildeter Journalisten, wird heute viel zu oft nicht mehr eingefordert. Denn jeder, der es will und sich geschickt dabei anstellt, kann die Funktion einer Zeitung oder eines Radiosenders ersetzen und Informationen an einen größeren Empfängerkreis aussenden. Am Ende können wir in einer Informationsflut voller Aufgeregtheiten, Oberflächlichkeiten und Falsch-Nachrichten untergehen. Der US-Spielfilm „Don’t look up“ hat das vor Jahren eindrucksvoll beschrieben – ein aufgeregter Medienbetrieb ließ die wirklich wichtigen Botschaften nicht mehr durchdringen, weil die Kanäle verstopft waren von vermeintlich aufregenden Nebensächlichkeiten. Wie gesagt: Noch haben wir diese Zustände bei uns nicht, noch besteht die „Macht der Presse“ und damit klappt auch ihre Kontrollfunktion. Noch.
Man müsste einen Anspruch auf gut recherchierte, seriöse und abwägende Informationen festlegen.
Wenn man die Kontrollfunktion der Presse garantieren will, da es sonst vermutlich keine vergleichbar starken Institutionen gibt zur Aufdeckung von Machtmissbrauch, dann reichen die Formulierungen in Artikel 5 vermutlich nicht mehr. Man müsste einen Anspruch auf gut recherchierte, seriöse und abwägende Informationen festlegen – denn das alte Vertrauen darauf, dass der Markt dafür schon ein Angebot schafft und sichert, könnte inzwischen eine Illusion sein. Wie aber soll man das tun, ohne dass der Staat es regelt – also die Politiker, die von guten Journalisten ja gerade kontrolliert werden sollen. Oder kann es eine unabhängige, staatsferne Qualitätskontrolle des Journalismus geben? Die Antwort fällt schwer, aber die Debatte muss dringend geführt werden.
Dieser Artikel erschien am 23.05.2024 in der Ausgabe #093.
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