Der evangelische Landesbischof aus Hannover, Ralf Meister, ist in seiner Eigenschaft als Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) für ein paar Tage in der Ukraine gewesen. Nach seiner Rückkehr sprach er Ende März mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick über seine Eindrücke und Erlebnisse.

Landesbischof Ralf Meister | Foto: Jens Schulze

Rundblick: Wo sind Sie gewesen?

Meister: Das Ziel war die Stadt Odessa am Schwarzen Meer – und einige Orte in der Umgebung. Das ist etwa 150 Kilometer von dem Gebiet entfernt, in dem derzeit Gefechte sind. Wir sind mit dem Flugzeug in der moldawischen Hauptstadt Chisinau gelandet und dann mit den Wagen nach Odessa gefahren, wo wir eine kleine lutherische Gemeinde besucht haben. Dort leben Geflüchtete aus Kriegsgebieten, die sich vorübergehend im derzeit recht sicheren Großraum Odessa aufhalten. Wir konnten dort nicht lange bleiben, es waren zwei lange Abende und ein Tag. Aber meine Mitreisenden und ich haben in vielen Gesprächen erfahren, wie es vielen Menschen dort gerade geht.

Rundblick: Was ist Ihnen berichtet worden?

Meister: Es sind Kirchen und Synagogen zerstört worden von den Angreifern, auch Museen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies quasi unbeabsichtigt geschehen ist. Es gab, so scheint es mir, das Ziel, die Kultur in der Ukraine zu vernichten. Die Binnenflüchtlinge haben uns einen Eindruck davon gegeben, was es für die Familien bedeutet, wenn der Vater an der Front ist und die Kinder von ihren Freundinnen und Freunden getrennt sind und nur online beschult werden können.

In Odessa hat Meister gemeinsam mit Pfarrer Alexander Gross von der Deutschen Evangelisch-lutherischen Kirche in der Ukraine einen Gottesdienst gefeiert | Foto: VELKD

Rundblick: Wie leben die Menschen dort?

Meister: Spätabends haben noch junge Leute in den Cafés gesessen und erzählt, viele sind in den Supermärkten einkaufen gegangen. Es wirkt auf mich, als wollten sie auch mitten im Krieg ein halbwegs normales Leben führen und sich nicht in dauernder Alarmstimmung befinden. Es gab hier auch öfter Luftalarm, in der Zeit meines Aufenthaltes mindestens drei- oder viermal. Aber viele Menschen haben ihre Handys ausgeschaltet oder die Alarm-App gelöscht, weil sie es nicht mehr hören wollten. Ein Mann sagte mir: Wenn ich jedes Mal beim Luftalarm in den Keller gehen würde, könnte ich gleich aufhören zu leben. Das Leben mitten im Kriegsgebiet, das habe ich hier erfahren, hat doch sehr viel von Normalität. Als ob der Mensch in Bedrohung instinktiv versucht ein Leben zu haben, welches ihn leben lässt.

Leben in der neuen Normalität? Nach Angriffen wurde der Hafen von Odessa abgeriegelt | Foto: VELKD

Rundblick: Was denken Sie: Wie ausgeprägt ist der Wille der Menschen, in ihre eigentliche Heimat zurückzukehren?

Meister: Nun hat sich mir in der kurzen Zeit natürlich nur ein sehr kleines Fenster geöffnet. Das möchte ich vorab betonen. In die Umgebung von Odessa sind viele Frauen und Kinder geflüchtet, weil in ihren Heimatorten gerade gekämpft wird. Ich habe mit einer Mutter gesprochen, die etwa 40 Jahre alt ist und sagte, sie wolle jetzt, da die Angriffe etwas nachgelassen haben, wieder in ihr Dorf zurückkehren. Dort, berichtete sie, leben normalerweise 2000 Menschen, derzeit seien es wohl noch 400. Und sie meinte: „Irgendeiner muss den Anfang machen und zurückkehren. Erst dann kommen auch die anderen.“

Rundblick: Und was ist mit denen, die aus dem Land geflohen sind?

Meister: Viele meiner Gesprächspartner in den Dörfern um Odessa meinten, dass vermutlich jene Landsleute, die nach Deutschland oder in die USA, oft zu Verwandten,  geflohen sind, kaum wieder zurückkehren werden.

„Die deutsche Debatte, ob man Waffen liefern oder Frieden um jeden Preis erreichen muss, erschien mir dort vor Ort wie ein wohlfeiles Gerede.“

Rundblick: Sie haben auch Kinder getroffen und erlebt in Odessa?

Meister: Ja, und das ist eine ganz merkwürdige Situation. Viele Frauen mit ihren Kindern, die sich in Odessa gerade aufhalten, befinden sich in einem Zwischenraum – einer Situation, die in höchstem Maße ungewiss ist. Sie wissen nicht, wann sie zurück können – aber sie sehnen sich nach der Rückkehr in ihre Dörfer, Häuser und Dorfgemeinschaften. Aber wie geht man mit einer solchen Lage um? Viele wollen ihr Leben möglichst so leben, wie es vorher war. Eine Frau erzählte mir im Versammlungsraum der Kirche, dass sie nun bald zurück in ihr Dorf müsse, da die Kartoffeln eingesetzt werden müssen – es sei jetzt an der Zeit. Eine andere Frau hat mich eindringlich befragt, ob ich denn wüsste, dass die russischen Soldaten Kinder verschleppt haben und welche Kriegsverbrechen geschehen sind. Ich habe das bejaht und gemerkt, wie wichtig es den Menschen ist, dass ihre Geschichte, ihre Erlebnisse festgehalten und weitergetragen werden. Die Leute in aussichtslosen Situationen wollen, dass diese schlimme Zeit später nicht geleugnet, verdreht oder heruntergespielt werden kann. Ihre Frage an uns lautet: „Seht Ihr uns?“ Verbunden wird das mit der Aufforderung: „Erzählt unsere Geschichte!“

Rundblick: Ging es in Ihren Gesprächen auch um Waffenlieferungen und um militärische Hilfe aus Deutschland?

Meister: Nein, ich habe auch keinen Nationalismus oder ähnliches wahrgenommen. Die deutsche Debatte, ob man Waffen liefern oder Frieden um jeden Preis erreichen muss, erschien mir dort vor Ort wie ein wohlfeiles Gerede.



Rundblick: Trotzdem muss man in Deutschland sich in dieser Frage bekennen. Was denken Sie darüber?

Meister: Ich habe niemanden getroffen, der diesen Krieg will. Alle sehnen sich nach Frieden. Doch einen Frieden ohne Gerechtigkeit gibt es nicht. Davon schreibt schon die Bibel im Psalm 85. Diejenigen, die nun meinen, man müsse Frieden um jeden Preis erreichen, müssen auch folgende Frage beantworten: Wenn das Niederlegen der Waffen bedeutet, dass bis zu 30 Prozent der Ukraine besetzt sind, die russischen Besatzer Menschen verhaften und einsperren, die Freiheitsrechte radikal beschränkt werden und die Demokratie endet, kann das dann ein Weg sein? Das fragen Sie bitte einmal jene, mit denen ich in Odessa gesprochen habe. Es gibt den Begriff der „rechtserhaltenden Gewalt“, nämlich einer Macht, die sicherstellt, dass die Regeln eingehalten werden. In absoluten Notsituationen muss auch die Anwendung einer solchen Gewalt erlaubt sein.

Rundblick: Viele Menschen aus der Ukraine sind zu uns gekommen. Es könnten, wenn sich der Krieg weiter in die Länge zieht, noch viel mehr werden. In Deutschland wird seit vielen Jahren über ein Konzept für die Migration gesprochen. Bewegt sich etwas?

Meister: Der Altbischof Karl Ludwig Kohlwage aus Lübeck, der gerade 90 Jahre alt geworden ist, hat schon Anfang der neunziger Jahre in einem gemeinsamen Wort der katholischen und evangelischen Kirche von den großen Herausforderungen der Migration und Flucht gesprochen. Die Menschheit muss diese Herausforderung bewältigen, wenn sie überleben will. Auf Ihre Frage gibt es, denke ich, keine österliche Antwort. Ich befürchte, die Lage bleibt dramatisch. Wenn wir denken, wir könnten im Blick auf unsere Situation, unseren Wohlstand, unseren Umgang mit der Natur und den Ressourcen die nächsten 20 bis 40 Jahre so wie bisher weiterleben, dann dürfte sich das als große Illusion entlarven. 

Nach seiner Rückkehr aus der Ukraine berichtete Ralf Meister (Bildmitte) den Rundblick-Redakteuren Klaus Wallbaum (l.) und Niklas Kleinwächter (r.) von seinen Erfahrungen. | Foto: Silvia Mustert

Rundblick: Sind wir nicht deshalb so hilflos, weil wir uns vor lauter Regeln und Ansprüchen, die wir selbst geschaffen habe, nicht mehr bewegen können?

Meister: Ja, das könnte einer der Gründe sein. Aber vielleicht erlauben Sie mir einen geistlichen Hinweis: Wir leben gerade in der Fastenzeit. Die wichtigste Veränderungsblockade scheint mir, dass es uns begüterten Menschen oftmals unmöglich erscheint, den Lebensstandard und unsere Ansprüche deutlich zu reduzieren.