Über sich selbst nachzudenken kann wehtun. „Wir sind voll auf Provokation gegangen“, erzählt Ferit Kilic, angehender Sozialarbeiter und Teamleiter im Projekt „Brothers“. „Manchmal haben wir uns richtig angeschrien mit den Jugendlichen.“ Die Strategie ist aufgegangen, wie Wiebke Osigus, Ministerin für Regionale Entwicklung, Bundes- und Europaangelegenheiten, jetzt berichten kann.

Podium mit fünf Gesprächspartnern
Europaministerin Wiebke Osigus (SPD, Bildmitte) stellt die Auswertung des „Brothers“-Projekts vor. | Foto: Beelte-Altwig

Das Gewaltpräventionsprojekt im Landkreis Göttingen, das von 2020 bis 2022 über die Richtlinie „Soziale Innovation“ des Ministeriums vom Land Niedersachsen gefördert wurde, hat sich in der Evaluation als Erfolg erwiesen. „Das Projekt verdient es, bundesweit eingesetzt zu werden. Niedersachsen nimmt damit eine Vorreiterrolle ein“, lobte Sabine Behn von der gGmbH Camino, die „Brothers“ ausgewertet hat, vor Journalisten in Hannover. Rund 120 Fachleute aus dem Bundesgebiet informierten sich bei einer hybriden Veranstaltung im Europaministerium darüber.

Coaching-Angebot für junge Männer mit Fluchterfahrung

„Brothers“ ist ein Coaching-Angebot für Jungen und junge Männer vornehmlich mit Fluchterfahrung. Sie haben sich zweimal wöchentlich mit den Teamern getroffen, die Freizeit zusammen verbracht, Unterstützung bei Alltagsproblemen bekommen und über Themen wie Homosexualität, Gleichberechtigung oder „Gender Pay Gap“ diskutiert. Einer der Teilnehmer ist der 17-jährige Abdulrahman Omran. Er ist 2015 mit seinen Eltern aus Syrien geflohen. Seit mehr als zwei Jahren trifft er sich mit der Gruppe. Inzwischen ist er selbst als „Peer Educator“ aktiv und begleitet Workshops in Schulen. Ferit Kilic hatte ihn auf der Straße angesprochen.

Abdulrahman Omran und Ferit Kilic berichten von ihren Erfahrungen. | Foto: Beelte-Altwig

Kilic spricht Türkisch, Arabisch, Kurdisch, Albanisch und natürlich Deutsch und Englisch. Mit diesen Kenntnissen überwindet er eine der größten Hürden, die bisher verhindern, dass Geflüchtete von Gewaltpräventionsprojekten erreicht werden: die Sprachbarriere. „Die Teamer sagen nicht: Wir ändern jetzt eure Meinung“, erklärt Abdulrahman: „Sie geben uns Informationen und wir können uns eine eigene Meinung bilden.“ Ferit Kilic bestätigt: „Wir wollen ihre ehrlichen Gedanken hören. Damit arbeiten wir dann.“

Vorbild kommt aus Berlin

„Brothers“ ist keine neue Erfindung. Es beruht auf dem Projekt „Heroes“ aus Berlin und wurde für den ländlichen Raum adaptiert. Zentral ist, sich mit der eigenen Identität auseinander zu setzen. Die Jugendlichen diskutieren darüber, woher sie ihre Werte haben und wie sie künftig mit diesen überkommenen Werten umgehen wollen. Sie denken über ihre Ziele im Leben nach und lernen, einen individuellen Weg zwischen Herkunftskultur und deutschem Mainstream zu finden. Daneben trainieren sie Kommunikation und Rhetorik, um ihren Standpunkt in Worte zu fassen.



Sieben Teilnehmer haben bisher (Teil-)Zertifikate erworben, um als „Brothers“ ihre Erfahrungen weiter zu geben. 31 Workshops an Schulen gaben ihnen dazu Gelegenheit. Vereinzelt fanden auch Workshops für Mädchen unter dem Titel „Sisters“ statt. „Mein eigener Weg war auch nicht gradlinig“, erzählt Teamleiter Ferit Kilic. „Ich hätte mir mit 14 Jahren gewünscht, einen Brother an meiner Seite zu haben.“ Inzwischen hat der Landkreis Göttingen die Anschlussfinanzierung von „Brothers“ sichergestellt, berichtet Ministerin Osigus. Nachahmer werden jetzt gesucht.