Der Herbst 2019 bietet Anlass für Rückblicke: Was war in diesem Land los vor zehn Jahren, vor 20 Jahren, vor 30, 40, 50, 60 und 70 Jahren? In einer kleinen Serie wollen wir zurückschauen – und dabei versuchen, ein paar Grundlinien der politischen Entwicklung zu entdecken. Heute: Niedersachsen im Jahr 1999.

Die acht Jahre zwischen 1990 und 1998, in denen Gerhard Schröder als Ministerpräsident in Hannover arbeitete, waren für die SPD eine sehr erfolgreiche Zeit. Der Regierungschef war populär, trotz seiner linken Vergangenheit spürte er von Anfang keine Skrupel, engste Kontakte zur Wirtschaft zu pflegen – ein Verhalten, das er später in seiner Kanzlerschaft noch weiter perfektionieren wird. Und die SPD feierte Wahlerfolge, spürte die eigene Stärke angesichts der CDU, die lange brauchte, den Machtverlust von 1990 zu verkraften und sich nach der Albrecht-Zeit neu aufzustellen.

Doch dann geschah, was einige einen Aderlass nannten: Gute Leute, die in der Landespolitik hätten gut gebraucht werden können, gingen mit Schröder nach Bonn und später nach Berlin – Frank Steinmeier, Brigitte Zypries, Claus Henning Schapper und Karl-Heinz Funke, um nur einige zu nennen.


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Zurück blieb der glücklose Schröder-Nachfolger auf dem Stuhl des Regierungschefs, Gerhard Glogowski, der längst nicht von allen in der SPD unterstützt wurde. Eine parteiinterne Debatte über Glogowskis Eignung wäre beinahe beim Landesparteitag im Frühsommer 1998 ausgebrochen – doch Schröder ließ wegen des Eschede-Zugunglücks den Parteitag kurzfristig gleich nach der Eröffnung wieder absagen, womit die Debatte verhindert werden konnte. So wurde er Ministerpräsident. Doch Glogowski hatte sichtlich Mühe, ein gutes Umfeld zu finden, er galt von Anfang an als eher schwacher Regierungschef.

Das Machtzentrum der Regierung verlagerte sich auf die Führung der SPD-Fraktion mit ihrem sehr regen, sehr machtbewussten Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Die Minister der Regierung, allesamt Sozialdemokraten, mussten sich an Gabriels selbstbewusstes Agieren erst gewöhnen, denn zu der Schröder-Zeit waren die Fraktionsvorsitzenden stets schwach geblieben. Da waren die Minister Heiner Aller (Finanzen), Heiner Bartling (Innen), Thomas Oppermann (Wissenschaft), Wolfgang Jüttner (Umwelt), Renate Jürgens-Pieper (Kultus) und Heidi Merk (Soziales), die allesamt auch keine großen Glogowski-Fans waren, aber Gabriel-Fans auch nicht.

Mit einem Hauruck-Verfahren wird Gabriel zum Ministerpräsidenten

Bis heute nicht geklärt ist die Frage, wie die Vorwürfe von Vetternwirtschaft entstanden waren, wie weitere Kritikpunkte so geschickt aneinandergereiht wurden, dass es nur eine Woche dauerte bis Glogowskis Rücktritt im Herbst 1999. Zwischen den ersten Berichten über seine Fehler und seinem Amtsverzicht verging nur eine Woche. Dann sorgte eine nicht minder intelligente Strategie dafür, dass die Landtagsfraktion den Nachfolger bestimmte – und nicht, was naheliegender gewesen wäre, ein Sonder-Landesparteitag. So sicherte sich Gabriel als Kandidat für die Nachfolge die nötige Mehrheit. Sein schärfster Konkurrent Jüttner, der auf einem Parteitag vielleicht eine größere Chance gehabt hätte, musste sich geschlagen geben. Ob dieses Hauruck-Verfahren, das mit dem plötzlichen Rücktritt begründet wurde, bei Lichte besehen sauber und ordnungsgemäß verlief, könnte in Zukunft ein lohnendes Projekt der SPD-internen Geschichtsforschung werden.


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Gabriel startete kurz vor Weihnachten 1999 schwungvoll ins Amt, er sprudelte nur so voller neuer Ideen und Vorschläge, stieß Diskussionen an und schmiedete Pläne. Die Unrast, die der junge Ministerpräsident (damals gerade 40 Jahre alt) ausstrahlte, wirkte für Außenstehende nach der manchmal eher bräsigen Schröder-Zeit erfrischend, für andere – unter anderem einige Kabinettsmitglieder – eher abstoßend. Denn immer stärker zeigte sich, wie wenig der neue Ministerpräsident im Grunde ein Teamarbeiter war, wie sehr er meinte, die Ministerien und die Strategieplanung für sich im stillen Kämmerlein aushecken zu können.

Dass er sich für den Motor der Landespolitik hielt und dies den anderen auch vermittelte, löste Spannungen und Frustrationen aus. Sinnbildlich blieb das Papier zur Reform der umstrittenen Orientierungsstufe, das Gabriel selbst entwarf und veröffentlichen ließ – zur Überraschung seiner Kultusministerin, die davon erfahren haben soll, als sie beim Friseur saß und einen Anruf ihrer Pressesprecherin erhielt.

Das Ende kam ziemlich bald: Bei der Landtagswahl 2003, gut drei Jahre nach Gabriels Amtsantritt, siegten CDU und FDP souverän, Christian Wulff wurde neuer Ministerpräsident. Gabriel brauchte Zeit für die Neuorientierung, wurde erst Oppositionsführer, wechselte dann 2005 in die Bundesregierung, arbeitete sich durch Fleiß, Klugheit und rhetorisches Talent zum SPD-Chef empor, wurde Vizekanzler, aber nie Kanzlerkandidat – und scheiterte am Ende doch an seinen persönlichen Schwächen und Fehlern, weil er es trotz seiner großen Fähigkeiten nie vermochte, innerhalb wie außerhalb der SPD wirklich populär zu werden. (kw)