In den siebziger Jahren tobte in der hannoverschen SPD ein erbitterter Machtkampf mit vielen Akteuren. Wie Recherchen des Politikjournals Rundblick jetzt zeigen, interessierte sich dafür sogar die Staatssicherheit der DDR. Wir beschreiben die Zusammenhänge in einer kleinen historischen Serie. Heute der erste Teil: der Fall Lehners.

Sie ist noch ganz aufgewühlt, wenn sie darüber spricht – nach all den Jahren. Es war ein Abend im April 1970, die Delegierten der Wahlkreiskonferenz 6 (Linden-Ricklingen) trafen sich zur Kür des neuen Landtagskandidaten. Irmgard Johannes, damals Sekretärin beim Ministerpräsidenten in der Staatskanzlei, war als Schriftführerin des Ortsvereins dabei. Zwei Kandidaten standen sich gegenüber: Richard Lehners, der niedersächsische Innenminister, und Bruno Orzykowski, der Betriebsratsvorsitzende der VAM Leichtmetallwerke in Linden. Das Ergebnis hatten viele vorher nicht für möglich gehalten. Für Lehners waren nur 15 Delegierte, für seinen Herausforderer drei mehr, nämlich 18. Orzykowski war damit nominiert. „Seine ganze Art widerstrebte mir. Er grüßte mit der Faust, verbreitete Propagandasprüche – und es war nichts dahinter“, sagt Irmgard Johannes. Das sei ein „Werk der Jusos“ gewesen, meint sie.


Lesen Sie auch: 

Teil I: Bruno O. – eine Schlüsselfigur der SPD, die ins Visier der DDR-Staatssicherheit geraten war


Tatsächlich erschütterte der Vorgang die ganze Landespartei. Noch wochenlang sollte sie sich mit den Folgen herumplagen. Denn Lehners war nicht irgendwer. Obwohl ein „Rechter“ in der SPD, hatte er drei Jahre zuvor – damals Landtagspräsident – die Karrierepläne des ebenfalls „rechten“ SPD-Bezirkschefs Egon Franke durchkreuzt und sich in der SPD-Landtagsfraktion zum Innenminister-Kandidaten küren lassen. Seine Anhängerschaft setzte große Hoffnungen in den Gewerkschaftsfunktionär. „Richard sollte Ministerpräsident werden“, zitierte der „Spiegel“ im Mai 1970 den damaligen DGB-Landeschef und Lehners-Wegbegleiter Helmut Greulich. Doch Orzykowski vernichtete diese Pläne, Lehners schien nach dieser Niederlage geschlagen zu sein – er verzichtete im ersten Augenblick darauf, sich ohne Wahlkreis um einen Platz auf der Landesliste zu bemühen. Ganz unangekündigt kam das Debakel für den Minister damals allerdings nicht, denn schon im Unterbezirksvorstand hatte es vorher ein Patt bei der Empfehlung für die Wahlkreiskandidatur gegeben. Kein Wunder: Das war 1970, das Jahr, in dem die Jungen in der hannoverschen SPD gegen die Alten rebellierten. Eines ihrer prominenten Opfer war der Innenminister.

Die SPD-Landtagsfraktion stellte sich quer

Allerdings nahm der Fall Lehners dann doch noch eine Wendung. Seine Anhänger wollten ihn erst doch noch auf die Landesliste setzen, was misslang. Bei der Landtagswahl am 14. Juni wurden dann nur noch zwei Parteien ins Parlament gewählt – die SPD und die CDU, die SPD hatte nur ein Mandat Vorsprung. Am Morgen nach der Wahl nominierte der Landesausschuss, ein kleiner Parteitag, den bisherigen Fraktionschef Helmut Kasimier als neuen Innenminister. Doch der verzichtete schon einen Tag später, vielleicht aus Sorge, wird spekuliert, dass er beim Verzicht auf die Fraktionsspitze dort mit einem Parteilinken als Nachfolger hätte rechnen müssen. Dann schlugen die Parteirechten im Landesausschuss den Hannoveraner Günter Kiehm als neuen Innenminister vor, die Oldenburger Horst Milde, den späteren Landtagspräsidenten. Doch die SPD-Landtagsfraktion stellte sich quer und wählte einen Gegenkandidaten, nämlich Lehners, und zwar mit 37 gegen 35 Stimmen. Wieder hatte Lehners sich mit Unterstützung der Fraktion gegen die Parteiführung, wie 1967, durchgesetzt. Doch hatten die Parteilinken drei Jahre zuvor, als er Egon Franke besiegte, noch Sympathie für die „Junggardisten“ gehabt, wie die Jusos damals Lehners‘ Anhänger anerkennend nannten, so war er nun der klare Gegner der Jungsozialisten und der Parteilinken.

Im Oktober 1970, vier Monate nach der Landtagswahl, holten die Parteilinken zum Gegenschlag aus. Sie verbreiteten intern in der SPD ein umfangreiches Pamphlet mit dem Titel „Fall und Aufstieg des Genossen R.L.“ und schickten es sogar an das Bundeskanzleramt, wo seit einem Jahr der spätere Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg als Abteilungsleiter tätig war. Sie führten darin interne Dokumente auf, so Protokolle der Hauptversammlung des SPD-Unterbezirks, in denen die Jusos Lehners „parteischädigendes Verhalten“ vorgehalten hatten. Bei Polizeieinsätzen gegen NPD-Kundgebungen und im Zusammenhang mit den Protesten gegen Üstra-Fahrpreiserhöhungen habe er zu wenig Sympathie für die Demonstranten gezeigt. In einer 20-seitigen Analyse kamen die Lehners-Gegner zu dem Schluss, dass „tiefe innere Beweggründe“ viele SPD-Abgeordnete dazu bewogen hätten, zum bisherigen Innenminister zu stehen: Da sie ihre Kommunal-, Bürgermeister- und Landratsmandate hätten sichern wollen, sei ihnen die sehr zurückhaltende Art, wie Lehners die Verwaltungs- und Gebietsreform als Innenminister angepackt hatte, gerade recht gewesen.

Garniert mit Karl Marx

Dieses Anti-Lehners-Pamphlet, gespickt mit Protokollen, Briefen und Presseartikeln, wurde mit einem Karl-Marx-Zitat garniert: „Man muss die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!“ Zu den Unterzeichnern einer Solidaritätserklärung mit diesem Papier gehörten auch der Lindener SPD-Chef Egon Kuhn und junge Gewerkschaftsfunktionär Wolfgang Pennigsdorf, von denen später noch die Rede sein wird, und auch Herbert Schmalstieg, der zwei Jahre später zum neuen Oberbürgermeister gewählt wurde. (kw)