Von Klaus Wallbaum

Der Fall ist besonders perfide, er bewegt seit Wochen die Republik. Auf einem Campingplatz in Lügde (Kreis Lippe) lebte seit 20 Jahren der heute 56 Jahre alte Andreas V., der dort in seinem Wohnwagen Kinder missbraucht haben soll. Von 31 Opfern wird berichtet. Auch das Jugendamt des benachbarten Landkreises Hameln-Pyrmont steht in der Kritik: Dort entschieden die Beamten Anfang 2017, dass die damals sechsjährige Tochter einer Frau, die sich nicht mehr um ihr Kind kümmern konnte, in die Obhut von Andreas V. als Pflegevater kommen sollte. Die Mutter hatte diesen Schritt empfohlen und V. benannt. Im Jahr zuvor hatte es allerdings binnen sechs Monaten drei Verdächtigungen auf eine angebliche pädophile Neigung des Mannes gegeben. Alle Hinweise wurden vom Hamelner Jugendamt geprüft, alle wurden aber verworfen – und gegen die Pflegschaft hatte die Behörde am Ende keine Einwände.


Lesen Sie auch:

Toepffer kritisiert Jugendamt des Kreises Hameln-Pyrmont

Warum Sexualstraftaten unentdeckt bleiben, weil die Ärzte nicht ausreichend nachfragen


Wie konnte das geschehen? Der Landrat von Hameln-Pyrmont, Tjark Bartels (SPD), zeigte sich in einer Pressekonferenz gestern „entsetzt“. Er wundert sich selbst, wieso das Jugendamt drei Hinweise auf die angebliche Pädophilie von Andreas V. als nicht relevant einstufte – und das in einer Phase, als die Übertragung der Pflegevaterschaft an V. noch geprüft wurde. Bartels versuchte in der Pressekonferenz, in der er sehr detailliert alle Abläufe in diesem Fall schilderte, eine Erklärung.

Er sprach zunächst von einem „Tunnelblick“: Die Mitarbeiter von Jugendämtern seien irgendwann „gewissermaßen blind gegenüber dem, was von außen kommt“. Dabei wies der Landrat darauf hin, dass in dem fraglichen Zeitraum eines halben Jahres nicht nur die drei Hinweise in dem konkreten Fall vorgelegen hätten, sondern mehr als 200 Hinweise zu den anderen in der Behörde bearbeiteten Fällen, in denen es um die Unterbringung pflegebedürftiger Kinder geht. Oft seien derartige Meldungen von der Absicht geprägt, jemand zu schaden, zu denunzieren oder sich wichtig zu machen.

Im Fall von V. meldete sich ein Vater, der V. auf einem Grillfest getroffen hatte – und der berichtete, V. habe geäußert, dass ein Mädchen „für Süßigkeiten alles machen“ würde. Dann hatte eine im Kindergarten tätige Psychologin den Verdacht geäußert, ein Kind wirke auf sie merkwürdig, hier könne Pädophilie eine Rolle spielen. Schließlich habe auch der Kinderschutzbund eine solche Vermutung geäußert. Ein Mitarbeiter des Jobcenters, bei dem V. sich vorstellte, bemerkte die schmutzige Kleidung des späteren Pflegekindes und sprach von möglicher Verwahrlosung. In allen Fällen hat das Jugendamt laut Bartels nachgehakt – sei aber stets zum Resultat gekommen, alles sei in Ordnung.

Zwischen beiden hat es keinen vollständigen Datenaustausch gegeben, obwohl es doch eine einzige Behörde ist.

Der zweite Erklärungsversuch von Bartels betrifft die Schwierigkeit der Kooperation zwischen den Behörden – oft auch die innerhalb nur einer Behörde. In Hameln waren zwei Untergliederungen des Jugendamtes mit dem Fall betraut, zunächst der allgemeine Sozialdienst und später dann, nach Entscheidung über die Pflegevaterschaft, der Pflegekinderdienst. „Zwischen beiden hat es keinen vollständigen Datenaustausch gegeben, obwohl es doch eine einzige Behörde ist“, beklagt Bartels.

Als Problem sieht er aber noch etwas anderes, das nicht auf die gegenseitige Abgrenzung der Ämter, sondern auf ihr unkritisches Zusammenwirken hinweist: Wenn die eine Stelle auf Basis von Hinweisen einer anderen eine Entscheidung fällen solle, werde die Empfehlung oft unhinterfragt übernommen. Der eine Mitarbeiter unterstelle damit dem anderen, er habe schon gut genug hingeschaut – obwohl das in der Praxis oft nicht so sei. In diesem konkreten Fall kommt noch etwas anderes hinzu, nämlich die nötige Kooperation des Jugendamtes in Hameln (zuständig für das Pflegekind) mit dem Jugendamt im nordrhein-westfälischen Lügde (zuständig für den Campingplatz, auf dem das Kind wohnte).

„Nicht optimal“ klappe die Zusammenarbeit über Kreis- und Landesgrenzen hinweg, meint Landrat Bartels. Hinzu kommt die Sonderregel, dass nach zwei Jahren die Zuständigkeit ganz zum Kreis Lippe gewandert wäre, wie es laut Gesetz vorgeschrieben ist. Die Hamelner wollten also die Betreuung des Kindes im gegenwärtigen Zustand so möglichst absichern, bevor der Fall dann an die Kollegen in NRW abgegeben wird. Sie wollten keine Störung.

„Wir sind auf die Fassade hereingefallen“

In seinem dritten Erklärungsversuch geht Bartels auf den Wunsch des Jugendamtes ein, das Kind an einen vermeintlich sicheren Ort gut betreut sehen zu wollen. Den Pflegevater V. beschreibt Bartels als rheinische Frohnatur, „ein bisschen bollerig und schräg, aber niemand, bei dem man eine Pädophilie vermutete“. Er habe sich immer kooperativ gezeigt, sei mit der Tochter zum Schwimmunterricht und zum Kindergarten gegangen, nie habe das Kind Signale ausgesendet, dass es von dem Mann belästigt wird. „Wir sind auf die Fassade hereingefallen“, sagt der Landrat. Hinzu kämen die schwierigen rechtlichen Umstände. Bei der überforderten Mutter sollte das Kind nicht bleiben, sie hatte V. als Pflegevater angegeben. Der Mutter das Sorgerecht zu entziehen, wäre laut Bartels ein aufwendiges, Vertrauen zerstörendes Unterfangen gewesen – mit geringen Erfolgsaussichten, wie gerade die aktuelle Rechtsprechung in Sorgerechtsfällen beweise. In dieser Situation könne nichts Besseres passieren, als wenn die Mutter einen – vermeintlich fähigen und engagierten – Betreuer für ihr Kind empfiehlt.

Als wäre das nicht alles schon schlimm genug, kommt noch ein weiteres schwerwiegendes Fehlverhalten im Kreishaus hinzu. Als der Fall im Herbst 2018 aufgeflogen war und die Staatsanwaltschaft kurz davor stand, die Akten im Hamelner Kreishaus zu beschlagnahmen, hat eine Mitarbeiterin des Jugendamtes aus einer Dokumentation zum Fall des Mädchens einen Hinweis von November 2017 getilgt. Dort war vermerkt worden, dass V. Kontakt zu jüngeren Mädchen suche und sie von sich abhängig mache. Offenbar wollte die – inzwischen freigestellte – Mitarbeiterin verhindern, dass der Justiz die ganze Dramatik bekannt wird: Dass das Jugendamt schon im November 2017, neben den drei Hinweisen aus dem Jahr 2016, deutliche Anzeichen für die Gefährlichkeit von V. sah – und trotzdem nichts dagegen unternommen hatte.

Wir brauchen sicher eine bessere Vernetzung von Ämtern, Polizei, Schulen und Kinderärzten. Aber wir brauchen auch höhere Strafen gegen Missbrauch – wegen der abschreckenden Wirkung.

Was ist nun zu tun? Landrat Bartels hat eine „externe Prüfinstanz“ angekündigt – unabhängige Experten sollen künftig wichtige Entscheidungen des Jugendamtes noch einmal überprüfen. Gleichzeitig appelliert er an den Bundestag, die Hürden für einen Sorgerechtsentzug abzusenken. Es müsse einfacher als bisher möglich sein, Kinder aus der Obhut der überforderten Eltern zu lösen. Der FDP-Landtagsabgeordnete Marco Genthe warnt davor, nun nur auf die Jugendämter zu zeigen: „Wir brauchen sicher eine bessere Vernetzung von Ämtern, Polizei, Schulen und Kinderärzten. Aber wir brauchen auch höhere Strafen gegen Missbrauch – wegen der abschreckenden Wirkung.“

Anja Piel (Grüne) forderte ein gemeinsames Konzept von Sozial- und Justizministerium, wie der Kinderschutz gestärkt werden kann. Sozialministerin Carola Reimann (SPD) sagte, im Fall Lügde habe das Jugendamt des Kreises Hameln-Pyrmont „eine fatale Fehleinschätzung“ gehabt. Donnerstag beschäftigt sich der Sozialausschuss des Landtags mit dem Fall.