Wer zu neuen Ufern aufbricht, muss selbstbewusst und unerschütterlich wirken – das neue Ziel fest und klar vor Augen. Deshalb wundert es nicht, dass Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius am Montag vor Journalisten in Hannover keinen Zweifel daran ließ, mit guten Chancen in die kommende Auseinandersetzung um den Parteivorsitz der SPD zu starten. Die Ausgangsbedingungen sind dabei, realistisch betrachtet, nicht rosig.

Wie geht’s weiter? – Foto: Foto: Pistorius/Weil/Lies

23 Regionalkonferenzen plant die Partei für eine Zeitspanne von sechs Wochen. Dabei müssen sich nach derzeitigem Stand 13 Bewerber vorstellen, und es könnten noch mehr werden. Nach einer Lesart, die unter Journalisten der Bundeshauptstadt verbreitet wird, ist darunter nur ein Schwergewicht: Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Pistorius aber, der gemeinsam mit der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping antritt, wird von manchen Beobachtern derzeit noch „unter ferner liefen“ abgetan – so wie Karl Lauterbach, Simone Lange oder Ralf Stegner. Er muss also noch kräftig aufholen.

https://twitter.com/borispistorius/status/1163148693777920000

So mutig der Schritt von Pistorius ist, so groß ist nach derzeitigem Stand auch das Risiko seiner Niederlage. Der niedersächsische Minister und die sächsische Ministerin müssten bundesweit in der SPD eine Sympathiebewegung auslösen, wenn sie nur in die Nähe einer Favoritenrolle kommen wollen. Bundesminister Scholz hat es da besser, er ist kraft Amtes schon ein Spitzenpolitiker, ragt also aus der Gruppe automatisch heraus. Für Pistorius und Köpping gilt das noch nicht. Ist es deshalb vielleicht eher der Mut der Verzweiflung, der Pistorius angetrieben hat?

Weils Strategie: Ruhig bleiben und abwarten

Die Lage der Niedersachsen-SPD ist in der Tat verzwickt: Seit sechseinhalb Jahren regiert Stephan Weil (60) das Land. Spätestens seit der Wiederwahl 2017 ist die Landespartei voll und ganz auf Weil ausgerichtet, im Kabinett soll er zuweilen ein hartes Regiment führen – während er nach außen zuweilen unbeteiligt wirkt und es strikt vermeidet, Einmischung in Sachfragen deutlich werden zu lassen. Olaf Lies (52) und Pistorius (59) sind seit Jahren die stärksten Minister auf SPD-Seite, damit auch die Nachfolgeaspiranten. Nun zeigt sich spätestens seit Ende Mai die Chance, dass Weil aufsteigen könnte zum SPD-Chef und Spitzenmann der Partei auf Bundesebene. Er könnte also in Hannover einen Platz frei machen. Dass er prinzipiell dazu bereit wäre, betont der Ministerpräsident immer wieder, aber bewerben will er sich nicht.

Das aus gutem Grund, denn wenn er jetzt kandidieren würde, müsste er sich auf eine Stufe stellen mit den anderen 13 Kandidaten, und er drohte zerrieben zu werden wie Lauterbach und Co. Also bleibt Weil im Hintergrund. Sollte der Prozess der Bewerberauslese für den Parteivorsitz im Chaos enden, weil zu viele unbekannte Interessenten sich gegenseitig blockieren und sich kein Favorit herausbildet, wäre Weils Chance gekommen als der Retter, der in einer völlig verfahrenen Situation den Ausweg ebnen könnte. Aber das wäre eben erst Anfang September möglich, wenn die gegenwärtige Findungsphase abgeschlossen ist. Und er müsste dann gerufen werden. Also lautet Weils Strategie: Ruhig bleiben und abwarten.

Gilt Olaf Lies als Weil-Nachfolger?

Nun hat der Ministerpräsident viele Genossen bei diesen Plänen offenbar nicht beteiligt. Womöglich hat Weil seine wahren Ambitionen auch im kleinen Kreis verschleiert, war zu einem vertraulichen Pakt mit Lies und Pistorius nicht in der Lage. So musste zum Ende der Sommerpause der Eindruck entstehen, in der SPD Niedersachsen verfolge jeder am Ende seine eigene Strategie. Lies machte die Verlockung des Angebots zum Wechsel in die Wirtschaft öffentlich – und ließ sich dann feiern für die Entscheidung, dem nicht nachzugeben. Im Gegenzug hofft Lies vermutlich, seine Chancen auf die Weil-Nachfolge damit verbessert zu haben. Und Pistorius? Anfang August erklärte Weil in einer Pressekonferenz, er wolle 2022 erneut SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl werden. 2022 ist Weil 63, Pistorius ist dann 62. Wenn Weil bis 67 Ministerpräsident bliebe, ist Pistorius 66 – und altersbedingt kein Nachfolgekandidat mehr.

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Diese fehlende Perspektive auf eine Aufstiegsmöglichkeit in der Landespartei mag Pistorius bewogen haben, seine Kandidatur für den Bundesvorsitz zu erklären. Die Weil-Taktik, bis Ende August abzuwarten, hat ihn nicht mehr aufhalten können. Hätte Weil seinen Innenminister vorher in die eigene Planung vertrauensvoller eingebunden, hätte er gar mit ihm paktiert, wäre Pistorius vielleicht zu mehr Rücksicht bereit gewesen. Jetzt aber schränkt Pistorius‘ Vorgehen die Bandbreite der Möglichkeiten von Weil ein. Vermutlich wird der SPD-Bezirksvorstand Weser-Ems den Innenminister Ende der Woche formell unterstützen, vielleicht der SPD-Bezirk Braunschweig ebenso. Im SPD-Bezirk Hannover, wo tendenziell mehr linke Vertreter und entschiedene Gegner einer Fortsetzung der Großen Koalition auf Bundesebene aktiv sind, fällt die Unterstützung für Pistorius erkennbar schwerer. Die Zersplitterung wird dann sichtbar.

Erstarrte Machtkonstellation in der Niedersachsen-SPD

Falls nun weder Olaf Scholz noch das Duo Pistorius/Köpping zur erhofften Klärung der bunten Kandidatenvielfalt der SPD beitragen, käme natürlich wieder der Ruf nach dem „Retter“ Stephan Weil in Betracht. Nur hätte dieser dann den Nachteil, dass der Ministerpräsident seinem ambitionierten Innenminister den Rückzug nahelegen oder ihn gar aus dem Feld drängen müsste. Das ist ein Schönheitsfehler, den die Spitze der Niedersachsen-SPD eigentlich vermeiden wollte. „So weit hätte es nicht kommen müssen“, sagt einer von den SPD-Spitzenleuten im Landesverband. Die Ungeduld von Pistorius in der zweiten Reihe war zu groß – auch in Anbetracht der Tatsache, dass dem Innenminister mit seinen 59 Jahren nicht mehr viel Zeit bleibt für den Versuch, in der Politik noch einmal neu durchzustarten. Das mag auch an einem beklemmenden Gefühl des Eingezwängtseins liegen, das immer dann entsteht, wenn eine Machtkonstellation schon länger andauert und eine Erneuerung sich nicht abzeichnet. Die niedersächsische SPD, in der nun seit sechs Jahren die handelnden Personen und ihr politisches Gewicht nahezu unverändert sind, ist ein Musterbeispiel für eine solche Erstarrung. Irgendwann macht sich der Dampf im Kessel Luft.

Und wenn er scheitern sollte mit seiner Bewerbung für den Parteivorsitz? „Dann werde ich weiter mit großer Freude, Leidenschaft und Pflichtbewusstsein mein Amt als Innenminister in Hannover weiterführen“, sagt Pistorius. Eine Bundestagskandidatur strebe er nicht an – schließe sie gleichwohl aber auch nicht aus. (kw)


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