Man merkt irgendwie gleich, dass eine historische Stunde im provisorischen Plenarsaal des niedersächsischen Parlaments schlägt. Das ist etwas ganz Seltenes, Außergewöhnliches, es liegt eine merkwürdige Spannung in der Luft. Wenn der Landtag einen Ministerpräsidenten wählt, spürt man so etwas regelmäßig, zumal diese Wahlen immer geheim sind und oft die Kandidaten in eigenen Reihen nicht alle Abgeordneten hinter sich haben. Aber das gibt es ja alle fünf Jahre wieder zu erleben.

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Die Selbstauflösung des Parlaments hingegen, um die es gestern ging, ist nun wirklich rar – das letzte Mal geschah dies in Niedersachsen 1970, vor mehr als vor 47 Jahren. So ist die Erregung greifbar, als am Montagvormittag die ersten Abgeordneten zum Tagungsort strömen – oder besser gesagt: hasten. Die Zahl der Kamerateams ist – gefühlt – doppelt so hoch wie sonst, die Beweglichkeit der Abgeordneten ist auch viel höher. Fast alle hier sind irgendwie nervös und aufgeregt, etliche laufen umher. Wer betont gelassen erscheinen will, ist es in Wahrheit nicht.

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Eine Viertelstunde vor Beginn füllt sich der Saal auf der linken Seite. Die CDU auf der rechten fehlt noch komplett, bei der SPD ist Fraktionsgeschäftsführer Grant Hendrik Tonne mal rechts, mal links, mal vorn und mal hinten zu sehen, immer mit neuem Ziel unterwegs. Vor dem Platz des Landtagspräsidenten reden Finanzminister Peter-Jürgen Schneider, Landtagsdirektor Udo Winkelmann und Landtagsvizepräsidentin Gabriele Andretta angeregt miteinander, zwischendurch kommt Innenminister Boris Pistorius herein, geht aber gleich wieder raus.

Als Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz den Saal betritt, wird sie gleich von Finanzminister Schneider umarmt, beide unterhalten sich dann lebhaft. Schneider, ein alter Hase in der Politik, hat schon viele solcher Situationen erlebt, er kann was erzählen. Daneben stehen die SPD-Abgeordneten Detlef Tanke und Petra Emmerich-Kopatsch und schauen wortlos zu, wie es im Saal immer voller wird. Die meisten sind schon früher da, um ja nichts zu verpassen.

Nur einige zeigen Nerven. Elke Twesten etwa, die derzeit bundesweit bekannteste CDU-Landtagsabgeordnete, erscheint um 10.58 Uhr, zwei Minuten vor dem offiziellen Beginn. Es dauert ein wenig, bis die Kamerateams sie entdecken und umringen – denn die sind gerade noch vor dem Platz von Ministerpräsident Stephan Weil versammelt. Um Punkt 11 Uhr geht hinter der Regierungsbank die Tür auf und das letzte noch fehlende Kabinettsmitglied betritt äußerlich cool den Raum, Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic von den Grünen. Sie ist eine von denen, die in der nächsten Wahlperiode kein Landtagsmandat mehr haben werden.

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Was überwiegt? Wehmut und Trauer oder Feierlichkeit und Freude auf den Wahlkampf? Wirklich fröhlich wirkt hier niemand, in sich gekehrt sind jedoch manche. Kurz nach der Begrüßung ruft Schriftführerin Sabine Tippelt (SPD) nacheinander die Namen auf: Mindestens zwei Drittel der 137 Abgeordneten müssen mit „ja“ stimmen, damit die Auflösung des Landtags geschehen kann. 136 sind anwesend, der von der SPD nicht wieder aufgestellte Mustafa Erkan fehlt entschuldigt. Vorher war gemutmaßt worden, dass womöglich alle Abgeordneten „ja“ sagen werden, denn alle Fraktionen haben sich für vorgezogene Neuwahlen ausgesprochen. Doch es kommt anders.

„Ein wütendes Ja“, ruft der SPD-Abgeordnete Michael Höntsch

Manche sagen das „ja“ so leise, dass man es kaum versteht, die FDP-Politiker Gabriele König und Horst Kortlang etwa, auch Susanne Menge von den Grünen, die noch ein zweites Mal aufgerufen werden muss. Ihre Fraktionskollegen Filiz Polat und Heiner Scholing sind auch kaum zu vernehmen, sie flüstern ihre Entscheidung. Und dann gibt es noch drei Abgeordnete, die nicht wieder antreten und nun doch schon deutlich ihr Missfallen ausdrücken. Michael Höntsch, ein leidenschaftlicher, bei der Wahlkreisaufstellung in Hannover aber unterlegener SPD-Politiker, sagt mit kräftiger, lauter Stimme: „ein wütendes Ja“, Ingrid Klopp (CDU) aus Gifhorn, die sich aus der Politik zurückzieht, ruft „Leider ja“. Später sagt sie, die Auflösung geschehe „zu kurzfristig“ und man hätte den Übergang zur nächsten Wahlperiode „mit mehr Sorgfalt und Transparenz“ regeln sollen.

Noch weiter geht die Delmenhorster CDU-Abgeordnete Annette Schwarz, die als einzige an diesem Tag „Nein“ sagt – und damit, ähnlich und nicht ganz so spektakulär wie Elke Twesten, Landesgeschichte schreibt. Am Ende das Resultat: 135 sind für die Auflösung, eine ist dagegen. „Die Auflösung ist beschlossen“, sagt Landtagspräsident Busemann gegen 11.30 Uhr. Nun herrscht einen Moment absolute Stille, wie bei einer Trauerfeier. Die Sitzung wird geschlossen.

Einigen fällt das schnelle Ende nicht leicht

Kurz darauf wird Annette Schwarz umringt. Was hat die CDU-Frau, die vor fast 20 Jahren zum ersten Mal in den Landtag kam, dazu bewogen? Sie tritt nicht wieder an, wollte also mit der Politik aufhören. Den Antrag auf Auflösung hat sie dann auch unterschrieben, aber später, meint sie, seien ihr Bedenken gekommen. Ob das der richtige Weg ist? Hätte nicht die CDU mit der FDP einen neuen Ministerpräsidenten wählen und die Landtagswahl beim ursprünglich geplanten 14. Januar belassen sollen? „Nein, die finanziellen Einbußen sind es nicht“, betont sie. Aber sie hätte über die richtige Strategie gern noch länger nachgedacht. Nun kommt das Ende des Landtags auch für sie sehr schnell, fast plötzlich.

„Manche, die lange dabei sind und jetzt aufhören wollen, stellen auf einmal fest: Nun ist es schon am Ende. Das fällt einigen nicht leicht“, meint Landtagspräsident Bernd Busemann. Den Abgeordneten, die nicht mehr wiederkehren, gehen drei Monatsdiäten verloren, außerdem haben einige Einbußen bei der Berechnung ihrer Versorgungsansprüche. Nichts dramatisches, aber dazu kommt die Erkenntnis, dass die Zeit im Landtag, dem „hohen Haus“, nun mal vorüber ist.

Einen Moment lang herrscht absolute Stille, wie bei einer Trauerfeier. Die Sitzung wird geschlossen.

Nicht mal eine Stunde dauert die Sitzung, dann ist der Saal leer und nichts erinnert mehr an das Historische, das diesen Tag hier ausgemacht hat. Auch Annette Schwarz ist gegangen, sie wird nun noch auf viele Medienanfragen reagieren müssen. Der Landtag hingegen macht erst einmal weiter, diese Woche tagen viele Ausschüsse, am 19. September gibt es auch die nächste Plenarssitzung, in der einige Gesetze beschlossen werden sollen.

Was dann geschehen wird, zeichnet sich allmählich ab: Zur Neuwahl am 15. Oktober wird der gerade fertiggestellte neue Plenarsaal wohl noch nicht genutzt werden können, die Landtagsverwaltung sucht nach einem Ausweichquartier. Am 27. Oktober dann, also zwölf Tage nach der Landtagswahl, wird das sanierte Landtagsgebäude eingeweiht, vermutlich kommt als Ehrengast der Bundespräsident. Viel spricht dafür, dass dann noch der alte Landtag amtiert und auch noch keine neue Regierung gebildet worden ist.

Für die erste Sitzung in der neuen, 18. Wahlperiode wird Dienstag, der 14. November, angepeilt. Dann wird ein neuer Landtagspräsident gewählt, vielleicht auch schon der neue Ministerpräsident, der auch der alte sein könnte. Bis dahin, so viel steht fest, bleibt der alte Landtag handlungsfähig – trotz seiner Auflösung. (kw)