Von Martin Brüning

Man braucht schon viel Platz, wenn es in einem Verfahren um fast eine halbe Million Kläger geht. Vor dem Oberlandesgericht Braunschweig beginnt am heutigen Vormittag das Verfahren um die Musterfeststellungklage im VW-Dieselskandal. Weil aber die Gerichtsräume für den Mammut-Prozess etwas klein gewesen wären, weicht man auf die Stadthalle Braunschweig aus. Hier können rund 400 Prozessbeteiligte, Journalisten und Zuschauer Platz finden.

Besonders spannend wird es für Beobachter an diesem Montag voraussichtlich noch nicht, zunächst muss zum Beispiel festgestellt werden, ob Anträge formell richtig gestellt wurden. Die inhaltlichen Fragen folgen, und es sind viele Fragen, die viel Zeit in Anspruch nehmen werden. Die fast 470.000 Besitzer eines Diesel-VWs, die sich der Klage angeschlossen haben, müssen sich auf eine Verfahrensdauer von zwei bis vier Jahren einstellen.

Rund 400 Prozessbeteiligte, Journalisten und Zuschauer können in der Braunschweiger Stadthalle Platz finden. Foto: Stadthalle Braunschweig Betriebsgesellschaft mbH

Schon bevor der Prozess beginnt, gibt es eine Diskussion um die Musterfeststellungklage. Schnell und unkompliziert sollte es gehen, so lautete das Ziel, wenn wie in diesem Fall Verbraucherverbände für eine Vielzahl von Betroffenen klagen. In der Realität wird es wie immer in juristischen Verfahren nicht unkompliziert – und schnell gehen wird es schon einmal gar nicht. Ist die neue Sammelklage ein juristischer Rohrkrepierer?

„Die Musterfeststellungsklage ist nicht gut, aber besser als nichts“, meint Professor Axel Halfmeier, Rechtsprofessor an der Leuphana Universität in Lüneburg, im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Man müsse zumindest anerkennen, dass es einen kleinen Schritt in Richtung einer kollektiven Rechtsdurchsetzung gebe, der aber zugleich sehr unzureichend sei. Die Komplexität des Verfahrens werde schon daraus deutlich, dass von der Einreichung der Klage bis zum ersten Verhandlungstag fast ein Jahr vergangen sei.

Bei einer Einzelklage gibt es nur zwei Möglichkeiten: ich habe eine Rechtsschutzversicherung oder ich bin reich.

Der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, Stefan Birkner, selbst Staatsanwalt und Richter in seinem Leben vor der Politik, beobachtet das Verfahren mit eigenen Worten mit einer Mischung aus Skepsis und der Neugierde, ob es funktioniert. Positiv bewertet Birkner, dass sich durch die neue Sammelklage mehr Menschen juristisch zur Wehr setzen, weil die Hürden niedriger seien. Allerdings müssen die Kläger bei einem positiven Urteil ihre Ansprüche gegen Volkswagen noch einmal individuell vor Gericht geltend machen. Wie viele der Kläger in der zweiten Runde am Ende noch dabei sein werden, bliebe abzuwarten, meint Birkner.


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Der Braunschweiger CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Müller, Mitglied des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz im Parlament, sieht in der Musterfeststellungsklage den Vorteil eines „niedrigschwelligen Zugangs zu gerichtlicher Hilfe“. „Dieser Vorteil darf nicht gering geschätzt werden. Es ist wie bei einer Tageswanderung: die lässt sich mit der Wandergruppe auch besser absolvieren als alleine“, sagt Müller im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick.

Sowohl Müller als auch der SPD-Landtagsabgeordnete Ulf Prange sehen auch den Vorteil, dass das Instrument für die Kläger kostengünstiger ist. „Bei einer Einzelklage gibt es nur zwei Möglichkeiten: ich habe eine Rechtsschutzversicherung oder ich bin reich“, erklärt Prange. Deshalb sollte man seiner Meinung nach die Möglichkeit der Sammelklage nicht kleinreden.

Volkswagen reizt in den Prozessen alle Möglichkeiten aus

Eine Tageswanderung wird es für die 470.000 Kläger dennoch nicht, sondern eine Wanderung über Jahre. Zu der langen Dauer trägt auch Volkswagen selbst bei. VW macht es wie in zahlreichen anderen Prozessen: der Konzern spielt auf Zeit. Dabei spielt der Zeitfaktor in dem Prozess eine besondere Rolle. Die Verbraucher wollen ihr Auto zurückgeben, müssen aber eine Entschädigung für die Nutzung bezahlen. Je länger der Prozess dauert, und je länger das Auto also genutzt wird, desto höher könnten Gerichte die Kosten für die Nutzung ansetzen. Die Differenz zwischen Nutzungsgebühr und Neuwagenpreis, also die Summe, mit der einzelne Verbraucher entschädigt werden könnte, könnte dann am Ende nicht mehr besonders hoch ausfallen.

Insofern hat Volkswagen ein Interesse daran, auf Zeit zu pokern. Dieses Vorgehen sieht Stefan Birkner kritisch. „Man sieht an allen Ecken und Enden , dass VW prozessual alles ausreizt. Das ist prozessstrategisch verständlich, in der Gesamtschau, vor allem für die Kunden, aber problematisch.“ Birkner spricht von prozessualen Winkelzügen. Diese könnten vor Gericht allerdings auch schiefgehen, warnt Carsten Müller. Schließlich könnte eine solche Taktik von den Richtern im Urteil berücksichtigt werden – zum Nachteil von Volkswagen.

Unter Juristen gibt es zudem auch Rechtsauffassungen, nach denen eine solche Nutzungsgebühr nicht zu zahlen sei. Schließlich dürfe jemand, der betrügt, am Ende nicht gratis davonkommen. Leuphana-Professor Axel Halfmeier meint, es werde am Ende wohl auf die Ansicht des Bundesgerichtshofs ankommen.

Gibt es einen Vergleich? Verbraucherschützer hoffen

Und genau dort wird das Verfahren am Ende voraussichtlich landen, denn das Feststellungsurteil des Oberlandesgerichts wird vermutlich nicht das letzte Wort sein, meinen Beobachter. Sie rechnen damit, dass die unterlegene Seite die letzte Instanz anrufen wird, und das ist der Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Auch wenn man bei der Verbraucherzentrale, deren Bundesverband die Klage in Kooperation mit dem ADAC führt, die Hoffnung hat, dass Volkswagen aus Imagegründen den Weg abkürzen und auf ein weiteres Verfahren in Karlsruhe verzichten könnte.

Das ist aber nicht mehr als eine Hoffnung, denn bisher hat die juristische Zockermentalität der Wolfsburger dem Konzern nicht geschadet – im Gegenteil: VW bleibt weiter mit großem Abstand auf Platz 1 der deutschen Auto-Zulassungsstatistik.

Es ist wie bei einer Tageswanderung: die lässt sich mit der Wandergruppe auch besser absolvieren als alleine.

Eine letzte Möglichkeit, den Weg abzukürzen, wäre ein Vergleich. Der könnte nach Ansicht der Verbraucherschützer-Anwälte in Frage kommen, wenn sich in dem Prozess herauskristallisiert, dass VW seine Kunden sittenwidrig geschädigt hat. In diesem Fall könnte es für den Konzern teuer werden, denn dann würden wie oben bereits beschrieben für die Kunden vermutlich keine Nutzungsgebühren für das Fahrzeug gegengerechnet werden. In Wolfsburg hält man einen Vergleich allerdings wegen der hohen Zahl der Mitkläger und der unterschiedlichen Fallkonstellationen für kaum vorstellbar.

Ob mit oder ohne Abkürzung durch einen Vergleich müssen sich die Kläger auf einen langen Prozess einstellen. Das spricht für den SPD-Politiker Prange aber nicht gegen das Instrument der Sammelklage. „Es ist unfair, die Klage an den zeitlichen Abläufen zu messen. Denn auch für diejenigen, die einzeln klagen, ist der Weg lang.“