„Summertime and the livin‘ is easy.” Diese Melodie von George Gershwin spielt zu Beginn der 70-Jahr-Feier des niedersächsischen Philologenverbandes das Jazzensemble der Kreismusikschule Goslar. Vor den Fenstern der Goslarer Kaiserpfalz, in der die Veranstaltung stattfindet, ziehen allerdings dichte Nebelschwaden vorbei, der Sommer ist bei einer Außentemperatur von 5 Grad zumindest gefühlt lange vorbei. Und dass das Leben nicht zu einfach sein sollte, erklärt den rund 350 Gästen Josef Kraus, wortgewaltiger ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Autor von Büchern wie „Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik.“ oder „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“.

„Wir brauchen eine neue Kanon-Debatte, eine Renaissance des Wissens“: Josef Kraus – Foto: MB.

Fast eine Stunde lang wettert Kraus gegen ein „Erwartungsdumping“ in den Schulen, „Wohlfühl-Spaß- und Gute-Laune-Pädagogik“ und eine „bildungspolitische Geisterlandschaft“. „Wir brauchen eine neue Kanon-Debatte, eine Renaissance des Wissens“, fordert Kraus in Goslar. Zwischenapplaus gibt es so gut wie gar nicht, weil die Zuschauer mucksmäuschenstill an seinen Lippen hängen. In den Schulen sieht Kraus derzeit einen Bildungsnotstand und macht dies auch an Zahlen fest. Beispiel Deutsch: Seit 1972 würde mit immer demselben Text die Rechtschreibleistung der Viertklässler gemessen. 1972 seien durchschnittlich 6,9 Fehler gemacht worden, inzwischen seien es 12,2. Beispiel Geschichte: Nur jeder Dritte wisse, dass die DDR damals die Mauer gebaut habe. Kraus spricht von einem „historischen Analphabetismus“.

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Als negative Beispiele dienen immer wieder Bremen und Berlin („Doof, aber sexy“). Und auch die Feindbilder werden gleich mehrmals genannt: Es sind die OECD sowie die 68er. Und natürlich die „Bertelsmänner in Gütersloh“, die den Eltern einredeten, die Menschwerdung beginne erst mit dem Abitur. Inzwischen sei manches Abiturzeugnis ob des Niveauabfalls allerdings ein ungedeckter Scheck. „Wir sollten von Schülern und Eltern etwas erwarten“, fordert Kraus. Wenn Kinder nicht herausgefordert würden, erreichten sie nicht, wozu sie fähig wären. Nicht nur zu viel, auch zu wenig Stress könne krank machen. „Ich habe nichts gegen Faulheit. Aber sie ist ein Privileg der Fleißigen“, so Kraus. Der Festredner warnt vor einer „Download-Generation mit Häppchen- und Just-in-time-Wissen“. Schließlich habe Wissen auch eine große gesellschaftliche Bedeutung. „Wer nichts weiß, muss alles glauben“, zitiert Kraus die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach.

Wer will Kultusminister werden?

Die Abrechnung mit der Landespolitik fällt bei diesem Philologentag gedämpfter aus und hat eher rückblickenden Charakter. Kein Wunder, in Hannover verhandeln SPD und CDU gerade erst über ein mögliches Bündnis. Noch-Kultusministerin Frauke Heiligenstadt hat sich den Besuch in Goslar nicht mehr angetan. Eine Politik, die Probleme löst und keine neuen Probleme schafft, wünscht sich der Vorsitzende des Philologenverbands in Niedersachsen, Horst Audritz, in seiner Rede. Auch er beklagt die Entwicklung an den Schulen. „Wir beobachten mit großer Sorge einen Leistungs- und Bildungsabbau“, sagt Audritz und spricht von einer Entwertung des Abiturs. Man dürfe über das Fördern das Fordern nicht vergessen. Das Problem werde auch an den Hochschulen deutlich, eine Abbrecherquote von inzwischen 35 Prozent sei alarmierend. Lobende Worte findet Audritz für die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren unter Rot-Grün, mahnt zugleich unter anderem aber an, die zweite Fremdsprache in der Einführungsphase wieder verbindlich einzuführen und Kerncurricula wieder mit Inhalten zu versehen.

Zu Beginn der Festveranstaltung hat in der Goslarer Kaiserpfalz die Politik das Wort. Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk stellt in einem unterhaltsamen Grußwort fest, er wolle keine Bewerbungsrede für den Posten des Kultusministers halten. „Die Halbwertszeit von Kultusministern in Hannover ist mir zu gering. Da bleibe ich lieber hier in Goslar.“ Landtagspräsident Bernd Busemann widerspricht in seiner Rede. Junk habe den Job des Kultusministers wie Sauerbier angeboten. Er selbst sei immerhin fünf Jahre lang Kultusminister gewesen. „Das ist doch gar nicht so schlecht“, sagte Busemann.

Die Bildung einer Großen Koalition werde nicht einfach, berichtet der Landtagspräsident aus der aktuellen Landespolitik. Er sehe in dem Bündnis aber auch die Chance, in der Schulpolitik einen gemeinsamen Weg zu finden. Es könnten tragfähige Kompromisse möglich werden, die beim nächsten Regierungswechsel nicht gleich um 180 Grad gedreht würden.

Busemann bekennt sich in seiner Rede zum Gymnasium und erntet dafür Applaus vom Publikum. Die Verteidigung des Gymnasiums spielt beim Verband der Philologen auch 70 Jahre nach dessen Gründung in Niedersachsen immer noch eine wichtige Rolle. Am 15. Oktober hatte sich der Verband in Hannover gegründet. „Und schon damals kämpften wir um den Erhalt der Gymnasien. Hätte es den Philologenverband nicht gegeben, hätten wir eine nivellierende Einheitsschule und kein Gymnasium mehr“, erklärt Horst Audritz. Klare Worte in der Kaiserpfalz und auch rund um den Rammelsberg hat sich der Nebel inzwischen verzogen. (MB.)