Gut ein Jahr nach der Pflegereform haben Experten bei einer Tagung in Hannover eine gemischte Bilanz gezogen. Anfang 2017 wurden aus den drei Pflegestufen fünf Pflegegrade. Mit dem ersten Pflegegrad wurde zum Beispiel ein Entlastungsbetrag von 125 Euro für Hauswirtschaftsleistungen eingeführt. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sollten außerdem Beeinträchtigungen bei Demenz besser als vorher berücksichtigt werden.

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von Soundcloud zu laden.

Inhalt laden

Christian Döring, Geschäftsführer des gemeinnützigen Senioren- und Pflegeheimbetreibers Seniorenwerk, sprach von einer guten bis sehr guten Reform. Menschen könnten durch sie länger zuhause und damit in ihrer vertrauten Umgebung bleiben, sagte Döring am Mittwoch auf einer Fachtagung des Sozialverbandes Deutschland in Niedersachsen (SoVD). Zugleich gebe es aber auch Schwächen. So sei das Ziel der Entbürokratisierung klar verfehlt worden. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK), der die Begutachtung von Pflegebedürftigen übernimmt, werde regelrecht überrannt. „Bei den Begutachtungsterminen gibt es eine Steigerung von 20 Prozent. Und dann müssen 64 Einzelpunkte begutachtet werden. Das ist Wahnsinn“, sagte Döring in Hannover.


Lesen Sie auch:


Michaela Schmolke vom MDK in Niedersachsen ist dagegen dankbar über den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Als Vorteil sieht sie vor allem, dass nun nicht mehr der Hilfebedarf in Minuten, sondern der Grad der Selbstständigkeit eines Menschen als Maßstab genommen wird. „Die Zeiten waren früher immer ein Problem. Ich konnten niemandem gerecht werden“, berichtete Schmolke. Die Reform bezeichnete sie als notwendigen Schritt.

Auch Ina Hensiek vom Pflegeservicebüro Ammerland sieht bei der Begutachtung große Vorteile durch die Reform. „Früher ging es immer rein nach dem Fragenkatalog. Heute gibt es mehr Beratung für die Pflegebedürftigen.“ Es werde häufig auf hohem Niveau gejammert, meinte Hensiek und erinnerte daran, dass es finanzielle Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung erst seit 1995 gibt. „Es gibt in Deutschland viele Möglichkeiten, die es in anderen Ländern nicht gibt, zum Beispiel auch die Rehabilitation für Senioren.“ Sie wünschte sich allerdings mehr stationäre Pflegemöglichkeiten auch für junge Menschen. Schließlich gebe es auch viele Jüngere, die pflegebedürftig seien und nicht zuhause leben könnten.

Experten diskutierten auf der Fachtagung des SoVD – Foto: MB.

Christian Döring zufolge gibt es allerdings auch Verlierer der Pflegereform. „Das sind Menschen mit einem niedrigen Pflegegrad, die sich erst ab 2017 für eine Pflegeeinrichtung entschieden haben. Sie müssen privat mehr dazu bezahlen, weil es für sie weniger Geld als vor der Reform aus der Pflegekasse gibt“, erklärte Döring. „Menschen sollten aber nicht finanziell überfordert werden, wenn die Rente nicht reicht. Da sollte der Gesetzgeber nacharbeiten“, meinte Döring. Als einen weiteren Verlierer sieht er große Pflegeeinrichtungen. Die 50-prozentige Fachkraftquote hält er für nicht mehr zeitgemäß, es werde viel Personal für die Prüfungen der Pflegebedürftigkeit gebunden. Zudem sei der Personalaufbau schwierig und werde zu weiteren Kosten für die Pflegebedürftigen führen.

Viele Experten wünschten sich eine Weiterentwicklung des Gesetzes. Man solle den angefangenen Weg weiter beschreiten, am besten in der Geschwindigkeit des Spitzensportlers Michael Jordan, meinte Gudrun Beckner von der Beratungsstelle der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft in Braunschweig. „Das Tempo eines Ausdauerläufers wäre schon gut“, ergänzte Döring.