Der Antisemitismus-Landesbeauftragte Franz Rainer Enste scheidet aus dem Amt. I Foto: StK Niedersachsen

Der scheidende Beauftragte für das Phänomen Antisemitismus, Franz Rainer Enste, hat sich bei einem Empfang der Landesregierung kritisch mit den bisherigen Strategien der Politik auseinandergesetzt. Enste verabschiedet sich nach dreieinhalb Jahren und übergibt die Position an Gerhard Wegner, den langjährigen Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. Wie Ministerpräsident Stephan Weil betonte, bleibt der Beauftragte ein Ehrenamt, denn es solle „die Unabhängigkeit von der politischen Arbeit der Landesregierung“ sichergestellt sein. Organisatorisch ist das Amt im Justizministerium angesiedelt, diskutiert wird derzeit eine personelle Verstärkung der Zuarbeit. Dies könnte unter anderem geschehen über eine Verlagerung von Mitarbeitern, die bisher dem Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe Deniz Kurku (der ein Landtagsabgeordneter ist) in der Staatskanzlei zustehen. Entschieden ist hier aber noch nichts. Ministerpräsident Stephan Weil nannte Enste „das Gesicht des Kampfes gegen Antisemitismus in Niedersachsen“. Michael Fürst vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden erklärte, der Nachfolger Wegner werde vieles anders als Enste machen müssen – „denn sonst wird er mit dem Vorgänger verglichen“. 

„Die Quantität von Publikationen zu diesem Thema ist umgekehrt proportional zu dem, was sie bewirken.“

Enste sagte, mit Büchern zur Geschichte des Antisemitismus und seinen klassischen oder modernen Ausprägungen könne man „in gleich mehreren Bibliotheken in Fünferreihen Dutzende von Regalen füllen“. Wenn man sich gleichzeitig die wachsende Zahl antisemitischer Vorfälle vergegenwärtige, liege der Schluss nahe: „Die Quantität von Publikationen zu diesem Thema ist umgekehrt proportional zu dem, was sie bewirken.“ Er halte die Besinnung auf die Grundlagen des demokratischen Staates für die richtige Antwort – „nie wieder Krieg, Terror, Willkür und Menschenverachtung“. Dazu gehörten die unveräußerlichen Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit, solidarische Mitmenschlichkeit und Respekt vor jedem anderen. Enste fügte hinzu: „Es darf nie mehr und unter absolut gar keinen Umständen aus verbalen Abfälligkeiten und sonstigen Angriffen auf die hier lebenden Juden millionenfacher Mord und entsetzliche Gräueltaten werden.“

Gerhard Wegner (links) wird Nachfolger von Franz Rainer Enste. I Foto: StK Niedersachsen

Bei der Frage, ob die bisherige Arbeit gegen Antisemitismus ausreichend ist, kommt der scheidende Landesbeauftragte zu einer Grundsatzfrage, nämlich zum typischen Verhalten der Menschen in Krisensituationen. Der Schriftsteller Stefan Zweig habe 1936 geschrieben: „Immer braucht nur, wenn die Ideale einer Generation ihr Feuer, ihre Farben verloren haben, ein suggestiver Mann aufzustehen und zu erklären, er und nur er habe die neue Formel gefunden. Und schon strömt das Vertrauen von Tausenden dem angeblichen Volkserlöser oder Welterlöser entgegen.“ Es gehe, wie auch andere Schriftsteller von Carl Zuckmayer über Umberto Eco bis Juli Zeh geschrieben haben, um die Ängste der Menschen. In „kippenden Gesellschaften“ nähmen die Ängste überhand, und jeder fordere nur Aufmerksamkeit für seine eigenen Ängste. Es komme zum Kampf der Ängste und zur Suche nach Sündenböcken.

Laut Enste erscheint der Antisemitismus heute in vielen Formen, manchmal auf den ersten Blick gar nicht als Judenfeindlichkeit erkennbar. Dazu gehöre auch Macho-Verhalten oder „gruppendynamisch motivierte Wichtigtuerei in Gestalt eines kalkulierten Tabubruchs“. Darauf könne man nicht gleichgültig reagieren. Man müsse ständig prüfen, ob das Regelwerk des Strafrechts noch ausreichend sei. Wichtiger noch sei aber die Präventionsarbeit. Die Vielfalt, Lebendigkeit, Bereicherung und Inspiration der jüdischen Kultur und des jüdischen Lebens müsse erlebbarer und begreifbarer gemacht werden.

Franz Rainer Enste wird bei einem Empfang der Landesregierung verabschiedet. I Foto: StK Niedersachsen

Respektbildung und soziale Anerkennung müssten stärker vermittelt werden, auch in der Schule. Der drohenden Müdigkeit gegenüber der Erinnerungskultur müsse man begegnen. „Letztlich brauchen wir eine Art ,Sondervermögen‘ für Schulen und andere Bildungseinrichtungen, und zwar ehrlicherweise in einer Größenordnung, die wir zurzeit notgedrungen in Waffen stecken.“ Zum Schluss sagte Enste, notwendig sei auch „ein neuer Glaube an die Vorzüge der Demokratie“: „Wir brauchen die Wiederbelebung eines kraftvollen und angstfreien Demokratie-Optimismus!“