Im April, spätestens Mai steht ein großer Termin bevor: Die rot-schwarze Landesregierung in Niedersachsen, die erste seit rund 50 Jahren, feiert dann Halbzeit. 30 Monate sind dann vergangen, 30 weitere stehen bis zur nächsten Landtagswahl bevor. Tatsächlich ist viel geschaffen worden seit November 2017 – es wurden Milliardenbeträge zur Seite gelegt für den Breitbandausbau, für die Sanierung der Krankenhäuser und der Uni-Kliniken, auch für den sozialen Wohnungsbau. Die Beitragsfreiheit in Kindergärten wurde festgelegt, das Polizeigesetz verschärft und ein neuer Feiertag, der Reformationstag, beschlossen. Jetzt wird hinter den Kulissen eifrig an einem Klimaschutzprogramm getüftelt.

Möglich wurde und wird das alles nur, weil die Steuerquellen sprudelten wie selten zuvor. Deshalb war die Laune ausgesprochen gut, als sich im Januar das Kabinett zur Klausurtagung traf. Wahr ist allerdings auch: Inzwischen spüren die Regierung und die sie tragenden Fraktionen eine merkwürdige Leere – denn das Arbeitsprogramm ist weitgehend erledigt, es fehlen nur noch die wirklich heiklen Punkte, und an die traut sich offenkundig niemand heran.

Merkwürdige Mischung aus Themenarmut und Gereiztheit

So erlebt Niedersachsen gegenwärtig eine merkwürdige Mischung von Themenarmut und Gereiztheit im Politikbetrieb. Dazu ein paar Beispiele: Seit Januar kommt das parlamentarische Geschäft nicht richtig in Gang. Die Fachausschüsse des Landtags, sonst eine Quelle von Anregungen und Innovationen, dümpeln lustlos dahin. Die Tagesordnungen sind kurz oder die Sitzungen fallen gleich ganz aus. Für das Plenum nächste Woche hat die Koalition gerade mal einen einzigen neuen Entschließungsantrag vorgelegt („Luftstandort Niedersachsen stärken…“), die Kabinettssitzung ist vergangenen Dienstag, wie in jüngster Zeit öfter, ausgefallen – wegen Themenarmut. Der Streit um die Frage, ob Niedersachsen die im Bund diskutierte Abstandsregel von 1000 Meter zu jeder neuen Windkraftanlage übernehmen soll, ist zwischen SPD und CDU immer noch nicht geklärt – obwohl Zeit genug war.


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Derweil profilieren sich Politiker in Interviews mit Themen, die auf der Bundesebene spielen und in der Koalition in Hannover unterschiedlich bewertet werden. So dachte Ministerpräsident Stephan Weil laut über eine Lockerung der Schuldenbremse nach, ein Weg, den sein Finanzminister in Hannover strikt ablehnt. Justizministerin Barbara Havliza befürwortete eine längere Vorratsdatenspeicherung für IP-Adressen, obwohl Innenminister Boris Pistorius meint, zunächst müssten dazu anhängige Gerichtsverfahren abgewartet werden.

Als Weil nach dem politischen Beben in Thüringen öffentlich erklärte, in der CDU sei „eine klare Haltung gegenüber der AfD schwer zu erzielen“, wies CDU-Landtagsfraktionschef Dirk Toepffer das barsch zurück: Weil solle sich lieber um die Schwäche seiner SPD in Thüringen kümmern. Diese Aussage des Ministerpräsidenten hat, wie es heißt, die Stimmung der Koalitionäre nachhaltig getrübt. Die noch Ende Januar verbreitete „gute Laune“ zwischen Sozial- und Christdemokraten weicht zunehmend einer Verspannung.

Stellenabbau und Verwaltungsreform will niemand anrühren

Tatsächlich liegen vor den Koalitionären einige unpopuläre Dinge, die sie sich nicht anzufassen trauen – etwa ein Konzept zum Stellenabbau und zur Verwaltungsreform, verbunden mit einer zielstrebigen Digitalisierung, oder auch ein Modell für die Schließung unwirtschaftlicher kleiner Krankenhäuser. Hin und wieder wird mal darüber kurz diskutiert, doch entschieden wird nichts. Diese Tatenlosigkeit der Koalition hinterlässt ein Vakuum – und das hat ungewollte Folgen. Zum einen erobern sich Themen eine hohe Aufmerksamkeit, die sonst eher nebensächlich wären, etwa die Debatte über die Behandlung eines mutmaßlichen Mafia-Bosses in der MHH.

Einige Politiker werden auch mutiger beim Vorpreschen mit Plänen, die in der Koalition eigentlich noch ausdiskutiert werden müssten. Umweltminister Olaf Lies kündigte diese Woche an, sein Konzept für die – in der CDU kritisch beurteilte – Landeswohnungsbaugesellschaft solle „im Sommer stehen“. Dabei hatte die SPD selbst, als sie am 5. Februar die Forderung beschloss, noch von einem „Plan erst für die nächste Wahlperiode“ gesprochen. Dient Lies‘ Auftritt nun dem Ziel, rasch Fakten zu schaffen – oder will er den Koalitionspartner zu unüberlegten Reaktionen provozieren?

Knall in Niedersachsen könnte Veränderungen im Bund bringen

Die atmosphärische Verschlechterung in Hannover hat ihre Entsprechung in einem anderen Vakuum, dem auf der Bundesebene. Seit die CDU kopflos ist und orientierungslos wirkt, halten Beobachter in Berlin alles für möglich, auch ein vorzeitiges Ende der Koalition mit vorgezogenen Bundestagsneuwahlen. Einige Beobachter meinen, die Bundespolitik könne in Niedersachsen wie ein „Brandbeschleuniger“ wirken. Andere erwidern, es könne ja auch umgekehrt sein: Ein großer Knall in Niedersachsen, der die hier bisher ordentlich funktionierende Große Koalition zerstört, würde die Lähmung in Berlin beenden und die Befürworter von Veränderungen im Bund zu ähnlichen Schritten motivieren.


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Das könnte zu Szenarien führen, die manche für dumme Gedanken, andere für realistische Planspiele halten: Sollte die Landesregierung in der Mitte der Wahlperiode zerbrechen, etwa durch Rücktritt oder Entlassung der CDU-Minister, würde wohl ein Ampelbündnis aus SPD, Grünen und FDP die naheliegende Lösung sein. Den beiden kleinen Parteien würde vermutlich nichts gelegener kommen: Die Grünen könnten mit der Regierungsverantwortung (etwa einem starken Umweltminister) übertünchen, dass sie nach dem Weggang von Anja Piel ein offensichtliches Führungsproblem haben, und die FDP käme aus ihrem Trauma heraus. Sie leidet seit inzwischen zweieinhalb Jahren darunter, das Angebot einer Beteiligung in der Regierung 2017 ausgeschlagen zu haben, im Bund wie im Land. Was könnte der FDP mehr Aufmerksamkeit verschaffen als die Profilierung über einen guten Wirtschaftsminister?

 

Welche Perspektive hat nun Stephan Weil? Bei vorgezogenen Bundestagswahlen könnte er vermutlich als Ministerpräsident die Kanzlerkandidatur übernehmen – mit der Option, nach einer Niederlage in Hannover Regierungschef zu bleiben. Auch das, heißt es intern, trägt nicht unbedingt zur Befriedung der Stimmung in der Landesregierung bei. (kw)